ENTRIA: „Nuclear Waste Governance“ – Wo ist die vergleichende Analyse?

nwgENTRIA als Wiederholung von InSOTEC?

Im Rahmen des ENTRIA-Forschungsprojekts wurde – wie schon im Projekt InSOTEC – die Entwicklung des Umgangs mit radioaktiven Abfällen in einzelnen Ländern zusammengestellt. Die Studie ist als Buch mit dem Titel Nuclear Waste Governance – An International Comparison erschienen. Die folgende Tabelle zeigt die Liste der Länder, die in der ENTRIA-Studie im Vergleich zum InSOTEC-Projekt und der Arbeit von Herrn Damveld behandelt werden. Zur Information ist auch der Rahmen der BGR-Kriterienkurzstudie aufgenommen.

ENTRIAInSOTECDamveldBGR Kriterienstudie
Grossbritannien++, aber nicht im INTERNET+-
Frankreich++++
Belgien++++
Schweiz++++
Deutschland+++-
Schweden++++
Finnland+++-
Tschechien++--
USA++++
Niederlande+++-
Italien+---
Spanien++--
Kanada-++-
Daenemark--+-
Ungarn-+--
Slovenien-+--

Die Tabelle zeigt, dass nur Italien zusätzlich betrachtet wurde. Von einer Ausweitung der Länderpalette kann also kaum gesprochen werden.

Die Sortierung der Länderberichte und die Methodenfrage

Die Länderberichte sind in drei Unterkapitel sortiert: Länder mit geologischer Endlagerung nach Wiederaufarbeitung, mit direkter geologischer Endlagerung auch von abgebrannten Brennelementen und mit Langzeitlagerung an der Oberfläche. Eine Begründung dafür wird nicht gegeben. Aus Strahlenschutzgesichtspunkten und insbesondere aus Sicht des Rechtfertigungsgrundsatzes läge eine Einteilung nach dem Verzicht oder Nichtverzicht auf die Produktion von elektrischer Energie aus Atomkernkraft näher. Erstaunlich ist insgesamt, dass die sozialwissenschaftliche Methodik, die zur Anwendung kommt, nicht präsentiert und begründet wird. Oder ist hier methodenfrei verfahren worden?

Struktur der Länderberichte

Bemerkenswert ist, dass die Länderberichte – mit die Regel bestätigenden Ausnahmen – gleich strukturiert sind, was bei den InSOTEC-Arbeiten noch nicht soweit fortgeschritten war. Die Gliederung besteht jeweils im Wesentlichen aus:

  • Einleitung
  • Derzeitige Politik
    • Abfallklassifizierung
    • Abfallmengen
    • Entsorgungsprogramm
    • Kosten, Finanzen und deren Absicherung
  • Gesetzlicher Rahmen
  • Institutioneller Rahmen
  • Standortsuche
  • Information und Beteiligung der Öffentlichkeit
  • Fazit

Bedauernswert ist, dass hier nicht noch weiter systematisiert wurde, was eine komparative Analyse erleichtert hätte.

Inhalte wie bei InSOTEC?

Eine interessante Frage ist, ob in den Länderberichten lediglich das zu finden ist, was bereits bei InSOTEC steht? Das ist nicht der Fall. Die beiden Projekte ergänzen sich eher. So steht im ENTRIA-Länderbericht zu Schweden (S. 208):

…The siting process for a repository for SNF – the most long lived RW with a safety case necessary for hundred of thousands or even millions of years – was not as easy. A voluntary process finally allowed SKB to start site investigation in 2000 at a site just south of the Forsmark NPP and at a site just adjacent to the Oskarshamm NPP…

An dieser wichtigen Stelle ist der InSOTEC-Bericht ausführlicher (S. 9f.):

1.3 Siting the geological disposal of radioactive waste in Sweden: essentially a tale of two communities

…..SKB argued in their FUD reports in 1986 and 1989 that the limited geological investigations they had been able to carry out confirmed that many locations in Sweden were most likely ‘good enough’ to host a KBS 3 repository. Research was also claimed to have demonstrated that excellence in engineering design can successfully compensate for less than perfect bedrock. Therefore, a turn to a voluntary siting process coincided with all municipalities in Sweden being invited to host initial ‘feasibility studies’. Through such studies, which did not include detailed geological investigations, individual communities would be able to discover for themselves together with the nuclear industry if local acceptability of geological disposal plans could be won. Initially, few volunteer communities were forthcoming and only two feasibility studies were launched in isolated communities in the north of Sweden. However, after local referenda both these northern communities withdrew from the siting process for a geological repository. By 1994 SKB had decided to start focussing attention on communities already hosting nuclear facilities as the best sites for pursuing feasibility studies and securing local acceptability of the direct geological disposal of spent fuel. This marked the beginning of a re-centring of the KBS project on the two communities of Oskarshamn and Östhammar (Elam and Sundqvist 2007: 32)….

Dafür wird bei ENTRIA der sich abzeichnende eventuelle Kollaps des schwedischen und damit auch des finnischen Modells genauer geschildert. Wie der obige Textausschnitt zeigt, kann das ENTRIA-Papier leider nur eingeschränkt zitiert werden, da viele Abkürzungen eingeführt wurden. Diese müssen in einem gut zehnseitigen Verzeichnis nachgeschlagen werden. Dabei ist man sehr akribisch vorgegangen, lediglich der Schlüsselbegriff NWG (Nuclear Waste Governance) fehlt.

Vergleichende Analyse?

Mit dem Untertitel des Buches An International Comparison ist eine vergleichende Analyse angekündigt. Diese findet sich aber in diesem Buch nicht. Zum Beispiel ist keine einzige Vergleichstabelle zu finden. In einleitenden Kapiteln wird lediglich der Begriff wicked problem strapaziert, ohne diesen an dem gesammelten Ländermaterial konkret zu unterfüttern. In einem Kapitel werden die Perspektiven nach Fukushima dargelegt und oft Japan angeführt. Ein Länderbericht zu Japan fehlt aber vollständig. Dafür wird hier (S. 67) – an einer Stelle, wo solches nicht hingehört – die oben zitierten InSOTEC-Ausführungen zu Schweden eingeflochten. Dagegen müssen solch wichtige Fragestellungen, wo der operator privat und wo staatlich organisiert ist und ob operator und regulator – wenn beide staatlich – unterschiedlichen Geschäftsbereichen zugeordnet sind, mühsam es dem Material herausgearbeitet werden. Hier ist noch viel zu tun. Die ENTRIA-Studie ist also eher eine ergänzende Materialiensammlung als eine wissenschaftliche Arbeit.

Notwendig ist „bottom up“ statt „top down“

Beim Durchsicht der Länderberichte fällt zumindest bei der Standortsuche immer wieder die Forderung nach einer bottom up-Methode statt der üblichen top down-Strategie auf. Auf die Situation in Deutschland projeziert, ergibt sich die Erkenntnis, dass durch die derzeitige Herangehensweise der Endlagerkommission ebenfalls wieder einem top down– Verfahren der Weg bereitet wird. Eine alternative bottom up-Arbeitsweise wurde im Beitrag Die Langzeitlagersuche endlich vom Kopf auf die Füße stellen vorgestellt.

Tabuthema internationaler Abfallaustausch

Interessant ist das Kapitel An Open Door for Spent Fuel and radioactive Waste Export? (S. 79- 97), in dem das erste Mal in dieser Ausführlichkeit über das Tabuthema Abfallaustausch Material zusammengetragen wird. Hier findet sich auch eine erläuternde Tabelle. Siehe auch Exportverbot für radioaktive Abfälle gehört ins Grundgesetz, darin insbesondere der Fall Dänemark.

Zwischenfazit

Das Zwischenfazit lautet also, dass die wirkliche wissenschaftliche Substanz – nämlich eine auf den Länderberichten basierende konkrete vergleichende Analyse – fehlt.

Warum nicht zweidimensional?


Wenn diese eindimensionale Analyse fehlt, ist es nicht verwunderlich, dass mehrdimensionale Analysen erst recht nicht zu finden sind. Wie sieht es mit dem politisch-gesellschaftlichen Umgang in den unterschiedlichen Ländern mit einem Problem aus, das natur- und sozialwissenschaftlich gleiche Dimensionen hat: dem Umgang mit hochtoxischen chemischen Substanzen? Diese sind meist auch wie radioaktive Abfälle genotoxisch, es gibt also keine Wirkungsschwelle und sie sind oft langlebig, langlebiger als radioaktive Abfälle. Hier werden auch die Alternativen Übertage-Hochsicherheits- und Untertagedeponie sowie Export verfolgt. Hierzu sind die Energie- und Chemiepolitiken der Länder zu vergleichen. Es ergäbe sich eine interessante zweidimensionale Analyse des Entsorgungs-Problems unserer Industriegesellschaften.

Die dritte Dimension

Selbst eine dritte Dimension ist vorstellbar, nämlich der Bereich der Lagerung von Erdgas und -öl. Hier spielen ober-, unterirdische Lagerung und der Wiedergewinnungsfaktor (Rückholbarkeit) eine wesentliche Rolle. Hier sind als Grundlage wieder die Energiepolitiken zu betrachten.

Wie dimensional wird in der Endlagerkommission gedacht?

Interessant wird sein, ob die Kommission sich mit der Eindimensionalität der Langzeitlagerfragestellung radioaktiver Abfälle auf ihrer Schweizreise zufrieden gegeben hat. Dem in der Kommissionssitzung am 04.07.2015 angekündigten Reisebericht wird zu entnehmen sein, ob Fragen auch zum Umgang mit hochtoxischen Abfällen und zur Chemiepolitik in der Schweiz – einem Kernland der Chemischen Industrie mit entsprechenden Problemen – beraten worden sind? Wenn Herr Müller immer wieder von Zusammenhängen spricht, wäre es hier angebracht, diese naheliegenden Zusammenhänge zu thematisieren.

2 Gedanken zu „ENTRIA: „Nuclear Waste Governance“ – Wo ist die vergleichende Analyse?

  1. Mein lieber Michael,
    bewertet man das Resultat eines Fußballspiels schon in der Halbzeitpause? Nein! Das sollte analog auch für unsere komparative Studie gelten, weil nicht nur das von Dir vermisste Länderkapitel Japan sondern auch der Vergleich der Nuclear Waste Governance von 24 Ländern im Band 2 – der 2016 erscheint – enthalten sind.
    Also noch etwas Geduld bitte…

    • Das beruhigt mich. Da lag ich also genau richtig in meiner Kritik.

      Leider wird nirgends ein zweiter Band angekündigt, oder habe ich da was überlesen? Ehrlicherweise hätte man als Untertitel noch beifügen sollen „Band 1: Erste Materialsammlung“. Bei einem Preis von 49,99 EUR erwartet man mehr Ehrlichkeit. Auch wenn ich beim Fußball nicht mitreden kann, aber da ist es selbst mir klar, dass es eine zweite Halbzeit gibt!

      Gibt es dann auch einen dritten Band, der die zweite Dimension – Energie- versus Chemiepolitiken – eröffnet? Oder ist nicht an eine Nachspielzeit gedacht, obwohl das wissenschaftliche Ziel noch nicht erreicht ist?

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