Problemfalle Endlager – Eine Textsammlung für StudentInnen der Gesellschaftswissenschaften

Endlagerproblematik aus der Sicht der Gesellschaftswissenschaften

Mit Achim Brunnengräber [Hrsg.]: Problemfalle Endlager liegt nun ein weiteres Buch zur Endlagerproblematik aus der Sicht der Gesellschaftswissenschaften vor. Es ist eine Sammlung von achtzehn Texten, fast ausschließlich von WissenschaftlerInnen des ENTRIA-Verbundprojekts. Lediglich drei Beiträge stammen von anderen AutorInnen, so unter anderem von Michael Müller – Vorsitzender der ehemaligen Endlagerkommission – und Jürgen Voges – Redakteur in der Geschäftsstelle der ehemaligen Endlagerkommission, jetzt Mitarbeiter in der Geschäftsstelle des Nationalen Begleitgremiums.

Geeignete Texte für Referate und Hausarbeiten

Wie der Herausgeber im Vorwort erläutert, war Anlass für die Erarbeitung des Buches das Defizit bei geeigneten Texten für Referate und Hausarbeiten für StudentInnen bei einschlägigen Seminaren. Die Texte in dem Sammelband füllen jetzt diese Lücke recht gut auf, ersparen aber nicht den Blick in die Primärliteratur, die reichhaltig jeweils am Ende jedes Beitrags aufgelistet wird.

Neuere und teilweise erstaunliche Äußerungen

Wie nicht anders zu erwarten war, finden sich viele altbekannte Ausführungen wieder, daneben aber auch neuere und teilweise erstaunliche Äußerungen. An einigen Stellen hätte man sich weitere Ausführungen gewünscht, an anderen sind Fakten nicht richtig wiedergegeben.

Einzigartige Zeitskala?

So wird im ersten Beitrag Die atompolitische Wende ausgeführt (S. 13):

Das Lager soll dann die bestmögliche Sicherheit für einen Zeitraum von einer Million Jahren gewährleisten. Schon allein auf Grund dieser Zeitskalen wird deutlich, dass es sich um ein einzigartiges und anspruchsvolles Vorhaben handelt.

Eine Million Jahre ist der Nachweiszeitraum, und nicht der notwendige Zeitraum für die Isolation der radioaktiven Stoffe von der Anthroposphäre. Ein längerer Nachweiszeitraum ist aber aus geologischer Sicht nicht möglich. Es besteht die Hoffnung, dass das Lager bis zum Abklingen der Radioaktivität auf ein hinnehmbares Maß (?) halbwegs in Takt bleibt. Solch ein Lager ist kein einzigartiges Vorhaben.

Untertagedeponien für chemotoxische Stoffe sollten erwähnt werden


Denn gleiche Anforderungen für unbegrenzte Dauer werden an Untertagedeponien für chemotoxische Abfälle gestellt, von denen in Deutschland fünf genehmigt waren, eine Genehmigung ist ausgelaufen. Leider wird an keiner Stelle des Sammelbandes ein Vergleich mit den Verfahren zu diesen Untertagedeponien oder anderen kritischen Abfallentsorgungsanlagen angestellt. Auch hier gab es bisweilen heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen bei der Standortwahl. Worin besteht der Unterschied in der gesellschaftlichen Wahrnehmung?

Radiotoxizität als relevante Größe nicht erwähnt

Weiterhin wird richtig auf Seite 16 ausgeführt, dass bei radioaktiven Abfällen

weder Tonnen- noch Kubikmeterangaben das Problem sinnvoll beschreiben können.

Das relevante Maß für die Langzeitlagerung – die Radiotoxizität und deren Zeitverlauf – wird aber an keiner Stelle erwähnt. Weder hier noch an anderer Stelle im gesamten Buch wird darauf hingewiesen, dass bei der Langzeitbetrachtung der Endlagerung nicht die direkte ionisierende Strahlung, sondern die Aufnahme von radioaktiven Stoffen und damit die innere Strahlenbelastung das wesentliche Problem darstellt.

ENTRIA als Nachwuchsförderung

Hervorgehoben wird die Rolle des Forschungsprojekts ENTRIA. Es bietet Nachwuchswissenschaftlern in einem gewissen finanziellen Rahmen, sich dem Thema Endlagerung zu nähern. Dies ist nur zu unterstreichen.

Naturwissenschaftlich-technische Hintergrundinformationen

Der zweite Beitrag bringt naturwissenschaftlich-technische Hintergrundinformationen. Hier wird ausgeführt, dass die Gesamtaktivität und damit die Wärmeleistung vom Abbrand der Brennelemente abhängt (S. 37). Hier wäre die Stelle, wo auf die geringe Gesamtaktivität neuer Brennelemente hingewiesen werden sollte, zum Beispiel in Form einer Grafik. Die Aktivierung und damit die Probleme beginnen im Kernkraftwerk.

Rückführung bestrahlter Brennelemente in die UdSSR

Weiterhin wird auf das dritte zentrale Zwischenlager in Lubmin für bestrahlte Brennelemente aus DDR-Reaktoren hingewiesen, ohne zu erwähnen, dass bestrahlte Brennelemente in der Regel in die UdSSR zurückzuführen waren.

Unsicherheiten und Nichtwissen

Versäumt wird der Hinweis auf die enormen Unsicherheiten und das Nichtwissen über die Endlagerung aus natur- und geowissenschaftlicher sowie technischer Sicht. Schon deshalb muss die Endlagerung mit sozio-technischen Ansätzen bearbeitet werden.

Der Atommüll ist nicht nur eine technische Herausforderung

Dies ist auch der Untertitel des dritten Beitrags, der da lautet Der Atommüll ist nicht nur eine technische Herausforderung. In diesem Beitrag wird von an der Endlagerkommission Beteiligten die Kommissionsarbeit dargestellt.
Schon in der ersten Fußnote aus Seite 57 wird der Zeitraum von 1 Mio. Jahre falsch als zeitliche Vorgabe des BfS deklariert. Diese Zeitbegrenzung wurde seitens AkEnd auf der Grundlage von Expertenmeinungen eingeführt (AkEnd, Seite 28 ff.).

Die deutsche Atombombe?

Auf Seite 58 wird ausgeführt, dass

die Nuklearenergie zum Einsatz kam oder kommt – häufig auch in der Absicht, atomares Know how für militärische Zwecke zu generieren.

Hier hätte man sich gewünscht, dass die deutschen Atombombenpläne (Adenauers Griff nach der Atombombe) und die Entscheidung für die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (WAK) explizit benannt werden – siehe Das Endlagerbergwerk ASSE II.

Rheinsberg und Morsleben

Leider finden sich in dem Beitrag einige falsche Darstellungen. So ging in Ostdeutschland nicht Greifswald Block I als erstes Kernkraftwerk ans Netz (S. 65), sondern im Jahr 1966 das KKW Rheinsberg mit 70 MW. Auch wird das Endlager Morsleben derzeit nicht mit erheblichem Aufwand stillgelegt (S. 67), sondern es läuft dazu erst das Planfeststellungsverfahren. Der vom BfS vorgelegte Stilllegungsplan wurde im Erörterungstermin 2011 fundiert kritisiert, woraufhin im Auftrag des BMU die Entsorgungskommission eine Mängelliste erstellte, die voraussichtlich erst 2018 abgearbeitet sein wird. Die Genehmigungsbehörde – das Umweltministerium in Magdeburg – hat zudem bei vielen Genehmigungsunterlagen Nachbesserungsbedarf angemeldet.

Zum ersten Mal ein komparatives Auswahlverfahren?

Etwas verwirrend ist die Stelle auf Seite 69, wo es um die Standortsuche für das Nukleare Entsorgungszentrum durch die KEWA geht. Die KEWA hat seit 1974 bundesweit nach zur Endlagerung potenziell geeigneten Salzvorkommen in einem komparativen Verfahren gesucht und mit Probebohrungen begonnen, bis dies 1976 durch landespolitische Einflussnahme gestoppt wurde. Insofern ist die Aussage auf Seite 71

Auf der Tagesordnung steht nun in der Bundesrepublik zum ersten Mal ein komparatives Auswahlverfahren für einen Standort insbesondere für hoch radioaktive Abfallstoffe…

so nicht ganz zutreffend. Leider hat auch die Endlagerkommission das komparative Suchverfahren nicht sauber nach den einschlägigen Grundlagen wie den Strahlenschutzgrundsätzen begründet.

Das Eigenlob der Endlagerkommission

Sehr nach Eigenlob klingt die Feststellung auf Seite 72, der Kommission komme

das Verdienst zu, neben den naturwissenschaftlich-technischen Kriterien in drei Kapiteln auch die historischen, politischen und sozialen Hintergründe und Zusammenhänge in der Auseinandersetzung um die Atomenergie aufgearbeitet zu haben.

So hat sie bei der historischen Aufarbeitung des Gorlebenproblems vollständig versagt und die kontroversen Darstellungen der Gorlebenuntersuchungskommission einfach nebeneinander abgedruckt. Kompromissvorschläge nicht unwichtiger Stakeholder aus dem Jahr 2012 spielten in der gesamten Kommissionsarbeit keinerlei Rolle, siehe Der zweite fatale Gorleben-Fehler.

Vertrauensbildende Maßnahmen bei sozio-technischen Problemen

Im Beitrag Technik oder Gesellschaft? wird das Endlagerproblem intensiv als sozio-technisches System beleuchtet. Obwohl die angesprochene doppelte Komplexität auch für andere Probleme gilt – Dioxine sind auch nicht zu sehen, riechen oder schmecken und zerfallen überhaupt nicht -, kommt er zu einem eigentlich richtigen Schluss beim Forschungsbedarf (S. 91):

ferner müssen sie Aussagen dazu generieren, wie Schlüsselakteure, die sich der argumentativen Suche nach angemessenen sozio-technischen Lösungen verweigern, durch vertrauensbildende Maßnahmen „adressiert“ werden können.

Dies trifft aber nicht das reale Szenario in der Bundesrepublik Deutschland. Erinnert sei an die von wesentlichen Akteuren im Jahr 2012 vorgetragenen Kompromisslinien. Das reale Problem besteht darin, das politisch-administrative System für solche Entwicklungen zu sensibilisieren. Die sog. politisch-administrative Elite muss vom Podest heruntersteigen und bereit sein, Argumente ernst zu nehmen und auf gleicher Augenhöhe auszutauschen.

Risikoansichten

Die schon lange diskutierten unterschiedlichen Risikowahrnehmungen werden im Kapitel Risikoansichten unter einem etwas anderen Blickwinkel entwickelt. Hier wird die Person, die einer Risikoquelle ausgesetzt ist, mit einem von Politik, Ressourcen, Information, Verfahren und Recht bestimmten Rahmen ausgestattet, auf dessen Grundlage dann die Risikoansicht gebildet wird.

Risikokommunikation

In den Schlussfolgerungen werden fünf wesentliche Aspekte empfohlen. Einer davon ist eine adäquate Risikokommunikation, wie sie im schweizer Leitfaden Kommunikation mit der Gesellschaft empfohlen wird – siehe auch Wissenschaftlicher Endbericht. Auch hier wird keine Parallele gezogen zu problematischen Anlagen wie Sondermülldeponien, siehe Burkart, R.(1993). Public Relations als Konfliktmanagement.

Erweiterung des wissenschaftlichen Horizonts

Der nächste Beitrag zeichnet sich hier durch ein größeres wissenschaftliches Niveau aus, da es die wichtigen Aspekte NIMBY, Freiwilligkeit, Kompensation, Vertrauen und Transparenz nicht nur auf Endlagerung radioaktiver Abfälle bezieht, sondern deren Rollen bei allen unerwünschten Großprojekten wie zum Beispiel konventioneller Abfallentsorgungsanlagen beleuchtet.

Nuclear communities

Gut herausgearbeitet wird die Bedingtheit der Freiwilligkeit im Zusammenhang mit dem Aspekt der Nuclear communities, was insbesondere beim schwedischen Weg wohl eine entscheidende Rolle gespielt hat. Angebunden an die Zeichentrickserie The Simpsons hier auch als Springfield-Syndrom bezeichnet (Springfield Nuclear Power Plant, insbesondere mit der Folge Two Cars in Every Garage and Three Eyes on Every Fish aus einer ganzen Reihe von Folgen rund um die Atomkernkraft). Wichtig ist die Schlussfolgerung (S. 139):

Demgemäß sollte NIMBY nicht als grundsätzliche Ablehnung eines Großprojekts wie eines nuklearen Endlagers gedeutet werden, sondern als Versäumnis des politischen Umgangs mit komplexen sozio-technischen Fragen.

Das wicked problem

Im nächsten Beitrag wird das wicked problem Endlagerung an zehn Charakteristika festgemacht:

  1. Weiter Kontext,
  2. wechselnde Narrative,
  3. sozio-technische Herausforderung,
  4. doppelte Gefahrenlage und Kosten,
  5. systemisches Risiko,
  6. unüberschaubare Zeitskalen,
  7. verknüfte Ebenen,
  8. konfliktive Akteurslandschaft,
  9. Grenzen der Wissenschaft und
  10. herausgeforderte Demokratie.

Dies ist für gesellschaftliche Probleme nicht die Ausnahme, sondern fast die Regel. Deshalb wird zur Entscheidungsfindung auch Politik gebraucht, denn reine Rationalität führt nicht zur Entscheidung. Parallelen zu anderen wicked problems werden aber nicht aufgezeigt. Schließlich kommt der Beitrag unter anderem zu den Einsichten, Kompromisse von allen Akteuren seien notwendig und das Problem könne innerhalb von Legislaturperioden von nur vier bis fünf Jahren, in denen das Prinzip der parteipolitischen Konkurrenz vorherrscht, weder durchdrungen noch gelöst werden.

Akteurslandschaften

Im Beitrag von Herrn Häfner werden die Akteurslandschaften beleuchtet, worüber er auch schon einen ENTRIA-Arbeitsbericht erstellt hat. Interessant ist der historische Ansatz der Akteursentwicklung. Erwähnt wird nicht die auch in Deutschland wohl ansatzweise Verquickung von militärischer und ziviler Atomtechnik (Adenauers Atombombenpläne). Insofern kann vermutlich auch in Deutschland von einem staatlich-militärisch-industriellen Komplex gesprochen werden, wozu auch die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe zu zählen ist (Radkau, S. 193 ff.). Weiterhin wird die Internationale Länderkommission Kerntechnik (ILK) der Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Hessen nicht genannt, die die Diskussion der Endlagerfrage mit Verweis auf Gorleben massiv blockiert hat.

ENTRIA-Fragestellung ist ein Neuaufguss

Als einseitig ist folgende Passage auf Seite 182 zu werten:

In der Bundesrepublik liegen bspw. zahlreiche Untersuchungen zur nicht-rückholbaren geologischen Tiefenlagerung im Wirtsgestein Salz vor, interdisziplinäre und vergleichende Studien anderer Lagerungsmöglichkeiten (Rückholbarkeit und Langzeit-Oberflächenlagerung) wurden im Wesentlichen aber erst im Rahmen des Forschungsprojekts ENTRIA durchgeführt.

Dazu sei auf die Studie Appel, D., J. Kreusch, et al.(2001): Vergleichende Bewertung von Entsorgungsoptionen für radioaktive Abfälle verwiesen, die mit ENTRIA-Arbeitsbericht-01 „Darstellung von Entsorgungsoptionen“ (Appel, Kreusch, Neumann) nach 14 Jahren eine Renaissance erfahren hat.

Plurale Endlagerforschung

Interessant ist der Hinweis zur pluralen Endlagerforschung in Deutscher Bundestag 1980: 308, der aber so nicht auffindbar war. In der Bundestagsdrucksache 8/4341 ist auf Seite 158 lediglich zu lesen:

3. Durch Probebohrungen ist die Eignung Gorlebens und alternativer Standorte für ein Endlager festzustellen. Zur Bewertung der geologischen Eignung der untersuchten Standorte – in die verschiedene geologische Formationen einzubeziehen sind – sind objektive, nachvollziehbare Maßstäbe anzulegen. Bei allen Prüfungen ist die öffentliche Information der Bürger sowie die Mitwirkung von Wissenschaftlern, die die Eignung des jeweiligen Endlagers skeptisch beurteilen, zu gewährleisten.

Neutrale Moderation notwendig

Häfner geht trotz des Ausscheidens der EVU-Akteure nicht von einer Reduktion der Komplexität der Prozesse und Diskurse aus und empfiehlt eine Moderation durch neutrale Institutionen, um die allgemeine Konfliktlinie zu überwinden.

11.000 Kommunen theoretisch betroffen

In einem weiteren Beitrag wird das Standortauswahlverfahren aus der Sicht der Kommunen – alle ca. 11.000 Kommunen in Deutschland könnten theoretisch betroffen sein – und der lokalen Bevölkerung betrachtet. Interessant sind die im Verlauf der wissenschaftlichen Arbeit geführten Interviews mit Kommunalvertretern, BIs und BürgerInnen.
Ausgeführt wird wiederum, dass Teile der Anti-Atombewegung die Mitarbeit in der Endlagerkommission ablehnten, dass aber schließlich der BUND e. V. und die Deutsche Umweltstiftung die beiden für Umweltverbände reservierten Plätze einnahmen. Sicherlich wäre es sinnvoll gewesen, die Kompromissvorschläge wesentlicher Stakeholder der Anti-Atom-Bewegung von 2012 bezüglich der Einbeziehung von Gorleben und der Nichtbeachtung durch das politische Establishment zu erwähnen.  Weiterhin ist anzumerken, dass die Deutsche Umweltstiftung kein Umweltverband ist und es sich damit um eine wohl politisch gewollte Scheinbesetzung handelte. Es wird ein Politikwechsel von Government zu Governance als notwendig erachtet, wodurch der Aspekt der gleichen Augenhöhe wesentlich wird.

Neuanfang oder lediglich eine passive Revolution

Der nächste Artikel stammt von einem Politikwissenschaftler außerhalb von ENTRIA. Er stellt die Frage, ob die Endlagerkommission einen Neuanfang oder lediglich eine passive Revolution im Sinne von Gramsci darstellt? Sehr übersichtlich wird die Entwicklung der Anti-Atom-Bewegung dargestellt, aber der temporäre Verzicht eines Teils der Bewegung auf die Ausschlussforderung von Gorleben im Jahr 2012 als Kompromissangebot nicht wahrgenommen. Zwar wird die Diskussion um die Besetzung der zwei Sitze für Umweltverbände in der Endlagerkommission nachgezeichnet, aber nicht kritisch hinterfragt, wie es zu der Umentscheidung des BUND e. V. gekommen ist. Welche Verhandlungen und Gespräche im Hintergrund führten zum Umschwung? Auch die Fehlbesetzung durch die Deutsche Umweltstiftung, die kein Umweltverband darstellt, wird nicht problematisiert.

Ohne sich in den Arenen der Zivilgesellschaft mit der Anti-Atom-Bewegung auseinandersetzen zu müssen

Dagegen sind doch ziemlich essenzielle Formulierungen gelungen, wie (S. 226):

Es ist das kurzfristige Ziel des Staatsapparateensembles, über das StandAG und die Kommission die „intellektuell und moralische Führung“ (Gramsci 2012: 1947) in der Endlagerstandortfrage wiederzuerlangen, ohne sich in den Arenen der Zivilgesellschaft mit der Anti-Atom-Bewegung auseinandersetzen zu müssen.

Oder (S. 227):

Während also eine Endlager-Kommission eingesetzt wird, welche eine langjährige und grundlegende Forderung der Anti-Atom-Bewegung war, werden nicht nur die EVU daran beteiligt, sondern gleichzeitig die Kommission in ihrem Handeln durch das schon verabschiedete StandAG eingeschränkt.

Diese Einschränkung durch das Gesetz hat selbst Herrn Hennenhöfer gesehen, aber mit der üblichen juristischen Denkweise der Administration entschuldigt, siehe Endlagersuchgesetz: Die Zivilgesellschaft mischt sich ein.

Juristischer Beitrag

Im juristischen Beitrag wird gleich zu Beginn eine unzutreffende Feststellung getroffen (S. 236):

Das Bundesumweltministerium erarbeitete darauf aufbauend eine ganze Reihe von Gesetzesentwürfen, die alle – anders als sonst üblich – im Internet veröffentlicht wurden, um den Bearbeitungsstand zu dokumentieren.

Richtig ist, dass wohl viele Entwürfe im Internet zu finden waren, aber irgendwo von irgendjemandem hochgeladen. Von einer Systematik, um den Bearbeitungsstand zu dokumentieren, war nichts zu spüren.
Andere Äußerungen sind sehr treffend, so zum Beispiel die mangelhafte Aufarbeitung der Vergangenheit durch die Kommission. Auch das Gorlebenauschlussproblem wird geschildert, aber die temporären Kompromissangebote wesentlicher Stakeholder nicht erwähnt.

Zeitraum eine Million Jahre

Kurios wird es bei der Frage nach dem Zeitraum von einer Million Jahre. In Juristenkreisen hat sich offensichtlich noch nicht herumgesprochen, dass es nicht der notwendige Isolationszeitraum, sondern der durch geologisches Nichtwissen begrenzte maximal mögliche Nachweiszeitraum für geologische Formationen in Deutschland ist. Dies ist auf die Arbeiten des AkEnd zurückzuführen (AkEnd, Seite 28 ff.). Bis dahin galt der Nachweiszeitraum von 10.000 Jahren (SSK, RSK 1988). Zum notwendigen Isolationszeitraum siehe Umweltgutachten 2000, Rand-Nr. 1324.

Rückstellung oder Fonds

Die Frage nach Rückstellung oder Fonds wird an den Ländervergleich Deutschland /Schweden entwickelt. Ergebnis ist, dass kein System eine Ideallösung darstellt. Wichtig ist bei beiden Modellen die konkrete Ausgestaltung.

Der staatlich-industrielle Atomkomplex

Im darauf folgenden Beitrag wird die Entwicklung bis zum heutigen sich andeutenden Zerfall des staatlich-industriellen Atomkomplexes vorgestellt, der in vielen Ländern nach Eisenhower auch als military-industrial complex anzusehen ist. Ob das auch für Deutschland zutrifft, bleibt fraglich.

Gewinner und Verlierer der Energiewende

Bei der Schilderung der Gewinner und Verlierer der Energiewende wird im Fall der Brenk Systemplanung GmbH eine nicht zutreffende Faktenlage präsentiert (S. 307 f.). Diese Ingenieurgesellschaft hat nicht rund 30 Mitarbeiterinnen, ist nicht in Darmstadt ansässig und ist nicht im Auftrag des BMUB bei der Stilllegung des Endlagers Morsleben (ERAM) gutachterlich tätig.
Die Anzahl der MitarbeiterInnen ist um einiges größer, der Sitz ist in Aachen und die Gutachten zum ERAM werden im Auftrag der Genehmigungsbehörde, des Umweltministeriums Sachsen-Anhalt, erstellt, siehe auch Richtigstellung von Herrn Schartmann. Wie auch wieder die letzte Akteneinsicht am 15.12.2016 gezeigt hat, sind diese Gutachten als sehr fundiert einzustufen und haben schon diverse Unzulänglichkeiten des Vorhabenträgers BfS aufgezeigt.

Formulierung, die man von dieser Seite nicht erwartet hätte

Interessant wird es auf Seite 309 mit einer Formulierung, die man von dieser Seite nicht erwartet hätte:

Nun könnte geschlussfolgert werden, dass es eine Bankrotterklärung des Staates ist, wenn es den EVU gelungen würde, die Folgekosten des Atomzeitalters auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Der „Atomstaat“ (Jungk 1977) selbst hat hierfür ebenso Verantwortung zu tragen, weil er seine Kontrollfunktion zum Schutz des Allgemeinwohls in Bezug auf die notwendige Endlagerung Jahrzehnte nicht hinreichend wahrgenommen, sondern andere Interessen verfolgt hat.

Nuklearer Kolonialismus

Im Beitrag Nuklearer Kolonialismus wird vom Uranerzabbau, über Atombombenversuche bis zur Endlagerung die kolonialistischen Züge aufgezeigt. Beispiele sind Kasachstan, Australien, USA, Niger, Mongolei, Indien, DDR, Bikini-Atoll, Montobello Inseln, Algerien, Muroroa Atoll etc.

Vergleich Schweiz / Deutschland

In einem weiteren Beitrag werden die Entwicklungen in der Schweiz und in Deutschland gegenübergestellt. Dies ist kein neuer Ansatz, aber trotzdem werden neue Aspekte angesprochen. So ist die Transparenz in der Endlagerkommission mit Videoübertragung und Wortprotokoll so in der Schweiz nicht zu finden, wohl aber Weiterbildungsangebote an Mitglieder der Regionalkonferenzen und die Bemühungen um Miliztauglichkeit. Auch wird die Flexibilität beim schweizer Verfahren an Hand der Auseinandersetzung über die untertägige Sicherheit geschildert. Die untertägige Sicherheit sollte allein Angelegenheit der Behörden und des Vorhabensträgers sein. Inzwischen gibt es in den Regionalkonferenzen jedoch eine dritte Fachgruppe Sicherheit.

Vergleich Frankreich / Schweden

Der nächste Beitrag befasst sich mit dem Vergleich zwischen Frankreich und Schweden. Auch hier gibt es interessante Detailinformationen, die insgesamt den Zweiervergleich produktiver erscheinen lässt als der groß angelegte Vergleich vieler Länder. Einleitend wird klar, dass die französische Mehrheits- und die schwedische Konsensdemokratie unterschiedliche Ansätze erfordern. Anschaulich wird geschildert, wie klippenreich der Weg zur Wahl des Standorts Bure im Département Meuse an der Grenze zum Département Haute-Marne und des Standorts Forsmark in der Gemeinde Östhammar war. Als in Schweden sich abzeichnete, dass die auf Freiwilligkeit basierende Auswahl unter den insgesamt 290 Kommunen ins Leere laufen werde, wurde das Scheitern dieses Ansatzes durch intensive Ansprache der Nuclear communities aufgefangen.

Arbeit der Endlagerkommission

Auch bei der Beleuchtung der Arbeit der Endlagerkommission im Beitrag von Karena Kalmbach wird zwar über die Besetzung der beiden Sitze für Umweltverbände berichtet, es fehlt aber eine kritische Anmerkung zum Nichtumweltverband Deutsche Umweltstiftung.

Pflege alter Konflikte oder neue Konsensfelder?

Ein untersuchter Aspekt ist die Frage, ob in der Kommission bestehende Konflikte gepflegt wurden oder neue Konsensfelder entwickelt wurden. Zwar wurden viele Konflikte weiter gepflegt, aber Konsens bestand darin, das Endlagerproblem sei nicht allein ein technisches, sondern eher ein sozio-technisches. Weiterhin fanden konsensorientierte inhaltliche Debatten eher hinter verschlossenen Türen oder außerhalb der Sitzungsräume statt, was eigentlich dem Transparenzgedanken der Kommission widersprach. Ein zentrales Fazit der Ausführungen ist (S. 406):

Vielleicht ist es gerade im Moment des parteiübergreifenden Atomausstiegskonsenses besonders wichtig, für die Anti-Atom-Bewegung die Rolle des kritischen Underdogs zu behalten anstatt offiziell zur Gewinnerin der Geschichte erklärt zu werden. Denn von Gewinnern gehen meist wenige neue kritische Impulse aus – aber kritische Impulse werden beim Thema Atommüll noch für mehrere Generationen erforderlich sein.

Bürgergutachten im Rahmen von ENTRIA

Im letzten Beitrag wird schließlich über das Bürgergutachten berichtet, das im Rahmen des Projekts ENTRIA erstellt wurde. Das Format, das Nichbetroffene zu Wort kommen lassen will, geht im Wesentlichen zurück auf die von Peter Diemel entwickelte Methode der Planungszelle, siehe auch Stiftung Mitarbeit. Das schon nach drei Wochenenden erstellte Bürgergutachten ist von erstaunlicher Qualität und wurde als Kommissions-Material 20 veröffentlicht.

Und der Input?

Elementar ist der am Beginn stehende fachliche Einstieg, der durch Infomaterial und Fachvorträge bewerkstelligt wurde. Ob da das Problem wirklich ausgewogen dargestellt wurde, kann aufgrund der Vortragenden angezweifelt werden. Auch wurde das ausgewählte Infomaterial nicht öffentlich gemacht. Und das, obwohl eine zentrale Erkenntnis des Bürgerforums ist (S. 422 f.):

Erfolgskritisch war daher ein ausreichendes, aber nicht überforderndes Maß an Information und ebenso eine ausgewogene Darstellung, die keine Lösung oder keinen Ansatz aus den laufenden Debatten bevorzugt. Während die Konzeption dieses Bürgerforums stark auf Vorträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzte, wünschten sich die Teilnehmenden eine größere Vielfalt an Informationsquellen und attraktiven Aufbereitungen wie Internetquellen, Visualisierungen oder einfachen Dokumentationen.

Um das Ergebnis zu würdigen, bedarf es also der Veröffentlichung des Inputmaterials inklusive der Vorträge. Gerade zur Visualisierung gibt es eine Fülle von Internetquellen. Die Frage ist: Wurden diese in Form von Link-Listen zur Verfügung gestellt?

Orientierung im umfangreichen Reader

Insgesamt ist der Reader sehr umfangreich. Eine Orientierung sollte aber nicht schwerfallen, da zu den Beiträgen jeweils zwei Abstracts zur Verfügung gestellt werden (S. 26 bis 31 und S. 431 bis 440). Viele Faktenungenauigkeiten hätten sich bei einer interdisziplinären Arbeitsweise mit einer gemeinsamen Endredaktionssitzung aller AutorInnen vermeiden lassen.

Was fehlt

In der vorliegenden Textsammlung fehlt eine sozialwissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Betrachtung der wesentlichen Wissenschaft für die tiefengeologische Lagerung – der Geowissenschaften.
Wünschenswert wäre auch ein Beitrag zur Soziologie des Strahlenschutzes unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung vor dem Hintergrund der Nutzung ionisierender Strahlung und der Atomkernkraft, denn schließlich ist die Endlagerung primär ein Strahlenschutzproblem.

3 Gedanken zu „Problemfalle Endlager – Eine Textsammlung für StudentInnen der Gesellschaftswissenschaften

  1. „… denn schließlich ist die Endlagerung primär ein Strahlenschutzproblem.“

    Obwohl das eine Binsenweisheit ist, die mit großer Wahrscheinlichkeit jedem bekannt sein dürfte, beobachten wir hier praktisch bei fast allen (amtlich oder ehrenamtlich) beteiligten Personen ein beredtes Schweigen, bzw. ist das Thema Strahlenschutz in der „Endlagerdiskussion“ ein Tabu.

    WIKIPEDIA: Ein Tabu beruht auf einem stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk bzw. einer kulturell überformten Übereinkunft, die bestimmte Verhaltensweisen auf elementare Weise gebietet oder verbietet. Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos, sie sind universell und ubiquitär, sie sind mithin Bestandteil einer funktionierenden menschlichen Gesellschaft. Dabei bleiben Tabus als soziale Normen unausgesprochen oder werden allenfalls durch indirekte Thematisierung (z. B. Ironie) oder beredtes Schweigen angedeutet: Insofern ist das mit Tabu Belegte jeglicher rationalen Begründung und Kritik entzogen. Gerade auf Grund ihres stillschweigenden, impliziten Charakters unterscheiden sich Tabus von den ausdrücklichen Verboten mit formalen Strafen aus dem Bereich kodifizierter Gesetze.[1] Nahezu alle Lebewesen, Gegenstände oder Situationen, die ins menschliche Blickfeld rücken, können tabuisiert werden. Tabus können sich beziehen auf Wörter, Dinge (z. B. Nahrungstabu), Handlungen (z. B. Inzesttabu), Konfliktthemen, auf Pflanzen und Tiere, auf die Nutzung von Ressourcen (siehe Tapu), auf einzelne Menschen oder soziale Gruppen.

    Hagen Scherb

  2. Sehr geehrter Herr Mehnert,

    vielen Dank für ihre konstruktive Auseinandersetzung mit dem Buch und auch meinen Text.

    Im Folgenden möchte ich einiges erläutern, ergänzen und kritisieren:

    1. die Verquickung von Militär und Staat:
    Hier ist zunächst festzuhalten, dass die Quellenlage in Bezug auf konkrete Technologien nicht sonderlich gut ist und zweitens dies in Bezug auf die Endlager-Governance als wenig relevant scheint. Diesbezüglich relevanter wäre sicher das Nukem-geflecht, welches ich im Text ja am Rande streife. Bei der Alkem (Tochter von Nukem) lagerten bis zu 4 Tonnen Plutonium, was für 100-1000 Atombomben ausgereicht hätte. Da das Material an UK weiter gegeben wurde spielt dies im Rahmen einer Endlager-Debatte aber ebenfalls – wenn überhaupt – eine marginale Rolle.

    2. Dies betrifft auch die ILK, die lediglich 10 Jahre existierte (1999-2009) und insofern in der Gesamtbetrachtung über den Zeitraum von 60 Jahren als weniger relevant erscheint. Dies mag aber auch eine Ermessensfrage darstellen.

    3. Zu „interdisziplinäre und vergleichende Studien anderer Lagerungsmöglichkeiten“ – natürlich hat es diese – in sehr geringem Umfang – gegeben. Im Vergleich zur Ressourcenausstattung der staatlich geförderten Forschungsprojekte sind diese aber doch marginal geblieben (und mussten dies auch) – zudem waren sie auch nur begrenzt interdisziplinär. Darauf stelle ich mit dem Begriff „im wesentlichen“ ab.

    4. Plurale Endlagerforschung: Die unterschiedlichen Seitenzahlen ergeben sich daraus, dass ich mich (wie im Inhaltsverzeichnis angegeben) auf die Druckversion beziehe, die nicht identisch mit der .pdf-version des Bundestages ist.

    Auf Seite 158 der .pdf-version (302 Druckversion) finden sie aber die Aussage:
    „Unbeschadet einer grundsätzlichen sicherheitstechnischen Realisierbarkeit der Endlagerung in einem Salzstock ist die Endlagertechnik für Endlagervarianten theoretisch und experimentell weiter zu entwickeln.“

    Auf Seite 162 der .pdf-version (308 Druckversion) finden sie die Aussage (Minderheitenvotum):
    „Unbeschadet der grundsätzlichen und sicherheitstechnischen Realisierbarkeit der Endlagerung in einem Salzstock ist die Endlagertechnik theoretisch und experimentell für die Endlagervarianten weiter zu entwickeln, wobei dies auch in internationaler Zusammenarbeit erfolgen soll.“

    Die Enquete-Kommission empfiehlt also explizit die Prüfung zumindest anderer Varianten – was genau gemeint ist, bleibt allerdings offen, bspw. wie sich Varianten und Alternativen (wie in Planfeststellungsverfahren) zueinander verhalten.

    Ich hoffe, dass ich hiermit einige Fragen klären konnte.

    Mit freundlichen Grüßen
    Daniel Häfner

  3. Eine andere Besprechnung des Buchs

    Am 07.02.2017 erschien eine eher allgemein gehaltene Besprechung des oben genannten Buchs, in der auch zwei andere Werke erwähnt werden. endlagerdialog.de hat zu beiden ausführliche Beiträge erstellt:

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