Artikel in der SZ
Im November 2012 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel mit der Headline Mehr Beteiligung für die Energiewende. In diesem entwickeln Claus Leggewie und Patrizia Nanz die Vorstellung, die Endlagersuche solle von einem Zukunftsrat begleitet werden.
Zukunftsrat
Dieses Gremium setzt sich zusammen nicht aus erlauchten Persönlichkeiten – wie in Ethikkommissionen – oder Stakeholdern, sondern aus einfachen Bürgern, die in einem Zufallsverfahren repräsentativ bezüglich Alter, Geschlecht und Bildung ausgesucht werden. Es ist quasi ein Untersuchungsausschuss nicht von Parlamentariern, sondern von Laien. Aufgabe ist die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen auf der Grundlage von Befragungen, Recherchen und Verständigung im Zukunftsrat selbst. Vorgeschlagen werden eine regionale Ebene an potenziellen Standorten und eine übergreifend nationale Ebene.
Erschüttertes Vertrauen
Ein solches Gremium könnte die Sache wirklich vorwärts bringen, da – wie in dem Artikel richtig dargestellt wird –
Das Vertrauen in die politischen Eliten ist vollständig erschüttert, keine wissenschaftliche Autorität wird mehr anerkannt, Bürgerinitiativen haben sich in einer Wagenburg verschanzt, die Energiekonzerne stehlen sich aus der Verantwortung.
Dabei ist aber anzumerken, dass die Energieversorger eher ausgegrenzt werden. Das will lediglich Greenpeace ansatzweise ändern.
Der Laien-Untersuchungsauschuss könnte dann genau diese
- politischen Eliten,
- wissenschaftlichen Autoritäten,
- verschanzten Bürgerinitiativen und
- Abfallerzeuger wie Energieversorgungsunternehmen und staatlichen Atomforschungszentren
befragen und Handlungsempfehlungen erarbeiten.
Handbuch: Konsensuskonferenz/Bürgerkonferenz
Genaueres kann im Handbuch Bürgerbeteiligung unter 4.9 Konsensus-, Bürgerkonferenz nachgelesen werden. Solch ein Verfahren wurde in Großbritannien bereits 1999 im Zusammenhang mit dem Umgang mit radioaktiven Abfällen eingesetzt – siehe The issue of framing and consensus conferences und Managing Radioactive Waste .. in the UK Seite 66.
Akzeptanz oder Legitimation
In dem SZ-Artikel ist noch ein weiterer Punkt wichtig:
…Und es geht ja um mehr als bloße Akzeptanzbeschaffung: nämlich darum, einer wie auch immer gearteten parlamentarischen Entscheidung durch eine verbindliche Empfehlung aus der Bürgerschaft zusätzliche Legitimation und Tragfähigkeit zu verleihen.
Dem kann nur beigepflichtet werden, siehe auch Artikel Verständigung statt Akzeptanz – Konsens statt Kompromiss.
Misstrauen in Politik und Wissenschaft
Dass das oben genannte Misstrauen in Politik und Wissenschaft berechtigt ist, zeigt folgende Passage:
Die Lagerstätten müssen so beschaffen sein, dass die Abfälle von der Biosphäre abgeschieden bleiben, bis keine Gefahr mehr von ihnen ausgeht – nach Festlegung des Bundesamtes für Strahlenschutz von 2005 heißt das: für eine Million Jahre. Bis zum Jahr 1 002 005 also. Die Zahl demonstriert den Hochmut einer hochriskanten Technologiewahl, die für Menschen kaum nachvollziehbare Fristen und Risiken einplanen muss.
Das Bundesamt für Strahlenschutz müsste es als wissenschaftlich-technische Bundesoberbehörde eigentlich besser wissen.
Biosphäre oder Anthroposphäre?
Die Isolation von der Biosphäre kann schon deshalb nicht gelingen, da selbst in den vorgesehenen Einlagerungstiefen biologische Organismen ihren Lebensraum haben. Siehe Resümee Fachdialog:
Der mögliche Einfluss lithoautotropher Organismen ist in der Kohlenwasserstoffbewertung (der BGR) bislang nicht betrachtet worden: Lithoautotrophe Organismen werden bei der weiteren Bearbeitung des Themas Gas- und Kohlenwasserstoffvorkommen innerhalb der VSG jetzt mit diskutiert. Dies wird im Zwischenbericht, dessen Fertigstellung im zweiten Quartal 2012 geplant ist, nachzulesen sein.
Ehrlicherweise sollte man also nicht von Biosphäre, sondern von Anthroposphäre sprechen.
Möglicher Prognosezeitraum und notwendiger Isolationszeitraum
Weiterhin ist der Zeitraum von einer Million Jahre nicht der notwendige Isolationszeitraum, sondern der Zeitraum, für den nach Ansicht der geologischen Experten bei den in Deutschland vorherrschenden geologischen Verhältnisse tragfähige Prognosen gewagt werden können.
Der notwendige Zeitraum dagegen ergibt sich aus dem Abfallinventar, den Schutzzielen, die man anstrebt, und den Modellvorstellungen, die man zugrunde legt. Hier sind selbst beim für das Endlager Konrad vorgesehenen Abfallinventar eher 10 Millionen Jahre anzusetzen. Siehe Kommentar vom 18.12.2011 unter [2]. Also nicht bis zum Jahr 1.002.005, sondern bis zum Jahr 10.002.005 sollten die Abfälle von der Anthroposphäre isoliert werden.
Sicherheit – Risiko – Gefahr – Angst
Ehrlicherweise kann man nicht von Langzeitsicherheit sprechen, sondern grundsätzlich nur von Langzeitrisiko. Entsprechend Luhmann ist Langzeitsicherheit ein „Leerbegriff“, er ist eher ein „Ventilbegriff für“ berechtigte „soziale Forderungen“ (Soziologie des Risikos, S. 29).
Setzt man mit Luhmann fort, dann kommt man von der Risikowahrnehmung des Entscheiders zur Gefahrenwahrnehmung der Betroffenen. Erst wenn die Betroffenen nahe an die Entscheidung herankommen können – also in einer Weise beteiligt werden, ohne sie zu überfordern -, kann die Gefahr und die Angst vor der Gefahr zum Risiko rationalisiert werden.
So kann auch Flugangst angeblich durch Training im Flugsimulator verringert werden, womit wir wieder bei der Metapher der fehlenden Landebahn wären.
Zum Punkt Möglicher Prognosezeitraum und notwendiger Isolationszeitraum findet man eine erstaunlich ehrliche Darstellung in dem Artikel Monitoring im Endlager: notwendig für die Akzeptanz? – Anmerkungen aus Sicht eines Betreibers von Zwischenlagern. Da heißt es auf Seite 28:
Und es kommt dazu noch von Mitarbeitern der Gesellschaft für Nuklear-Service, einer Richtung, aus der manch ein Bürger eine solche Offenheit nicht erwartet. Nur der Begriff Langzeitsicherheitsnachweis sollte richtiger lauten Langzeitrisikoanalyse.
Artikel in Zeitschrift Strahlentelex
In der Februarausgabe 2013 der Zeitschrift Strahlentelex sind einige Passagen des obigen Beitrags zitiert. Der Artikel schließt mit dem Statement:
Ein solches „Rationalisieren“ war im Artikel nicht gemeint. Hier ist eher der soziologische Rationalisierungsbegriff anzuwenden – im Sinne von Norbert Elias als Steigerung der „Langsicht“, d. h. der Fähigkeit, die Folgen der eigenen Handlungen über immer mehr Glieder der Kausalketten „vorauszuberechnen“ (Wikipedia).
Konkret ist zum Beispiel vorstellbar, dass aus der Angst vor einer Strahlenbelastung bei der intensiven Befassung mit der Problematik und Entlarvung des Euphemismus sicheres Endlager die strikte Forderung aufgestellt wird, in eine Debatte über Langfristlager erst dann einzutreten, wenn der Atomausstieg nicht rückholbar gemacht wird. Es kann sein, dass erst dann rationale Kompromisse möglich sind aufgrund der Tatsache, dass das Zeug ja irgendwohin muss.
So etwas Ähnliches gab es in der Endlagerdiskussion in Großbritannien, wo alte und neue Abfälle unterschieden werden sollten. Im Strahlenschutz läuft das unter Nutzen-Risiko-Abwägung. Wenn die Energieversorgung ohne Atomkraftwerke möglich ist, sieht diese Abwägung anders aus, als sie sich vielleicht in den 1960er-Jahren dargestellt hat, als es dem deutschen Staat – mit einem heimlichen Blick auf die Atombombe – gelang, die Energieversorger auf die atomare Bahn zu lenken.