ZERAM: Wissen, Ungewissheiten und Nichtwissen

Fachforum ERAM

Der sogenannte Langzeitsicherheitsnachweis zum Zwischen- und Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben (ZERAM) ist in einer ESK-Stellungnahme 2013 insbesondere wegen der unsystematischen Behandlung von Ungewissheiten kritisiert worden. Der folgende Beitrag wurde in gekürzter Form auf dem Fachforum ERAM am 18.05.2019 vorgetragen.

Was wir wissen

Die Endlagerung der zwischengelagerten Abfälle ist nach den jetzigen gesetzlichen und untergesetzlichen Normen nicht mehr möglich. Insbesondere die Sicherheitsanforderungen 2010 verbieten die Endlagerung radioaktiver Abfälle in einem ehemaligen Gewinnungsbergwerk. Die ESK hat 2013 festgestellt, dass diese Anforderungen nicht nur für wärmeentwickelnde Abfälle anzuwenden sind. Auch die weitere Verzögerung der Stilllegung ist kein probates Mittel. Das Radiumfass müsste bis zu seiner Freigabe noch 40.225 Jahre lagern (Freigrenze und Halbwertszeit aus Verordnung zur weiteren Modernisierung des Strahlenschutzrechts, Anlage 4, Tabelle 1, Spalte 2 und 15).

Die Abfälle im Ostfeld sind entgegen der Betriebsgenehmigung für das ERAM nach der Deutschen Vereinigung 1990 eingelagert worden. Dies geschah insbesondere, um die Landessammelstellen in den Bundesländern zu leeren. Diese konnten seit Anfang 1979 ihren Abfall nicht mehr in der Asse loswerden. Die Endlagerung im Ostfeld ist illegal, die Genehmigungsbehörde wird aber durch Bundesweisung von 1996 daran gehindert, dieses festzustellen und dagegen vorzugehen. Die Klärung der Legalität der Endlagerung im Ostfeld durch ein Feststellungsklageverfahren wird offensichtlich nicht verfolgt – siehe auch (Mehnert 2009).

Was wir in etwa wissen und was wir nicht wissen

Mit Modellrechnungen ist die zukünftige Strahlenbelastung des Menschen durch Freisetzung aus dem Zwischen- und Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben (ZERAM) abgeschätzt worden. Für diese Abschätzungen müssen gut 200 Standortparameter eingegeben werden, zusätzlich spezifische Parameter der knapp 50 Radionuklide, die eine Rolle spielen. Dazu gehören Inventar, Halbwertszeiten, Löslichkeit, Sorptionseigenschaften und Dosiskoeffizienten (Niemeyer 2004), also noch einmal mindestens 300 Größen. All diese Größen sind nicht exakt bekannt. Weshalb?

Beispiel Halbwertszeiten

Halbwertszeiten der Radionuklide stellt die Physik bereit. Physik gilt als exakte Wissenschaft. Aber auch diese Größen müssen gemessen werden, was teilweise schwierig ist. Die Streuung der Messwerte geht als Fehlerbereich (Vertrauensbereich) in das Ergebnis ein. Beispiele:
Sn-126                (2,33  ± 0,1) x 105 a     Fehlerbreite 4% (Catlow 2005)
Se-79                   (1,1  ± 0,2) x 106 a       Fehlerbreite 18% (Songsheng 1997)
Genauere Messungen sind prinzipiell möglich, durch bessere Messmethoden und/oder größere Messreihen.

Beispiel Dosiskoeffizienten

Dosiskoeffizienten dienen zur Berechnung der Strahlenbelastung aus der Aufnahmemenge von Radionukliden. Die Dosiskoeffizienten werden ohne Fehlerbandbreite angegeben. Sie sind nicht wirkliche wissenschaftliche Parameter, sondern gehen auf Konventionen der International Commission on Radiological Protection zurück, in denen sie festgelegt werden. Der wissenschaftliche Wert ist geprägt durch zum Beispiel Variationen der individuellen Ausgestaltung des Stoffwechsels.

Beispiel Ernährungsgewohnheiten

Bei der Feststellung der Aufnahmemenge von Radionukliden spielt die Ernährungsgewohnheit des Menschen eine Rolle, der in zehn- oder hunderttausend Jahren am Standort lebt. Diese ist nicht bekannt, wird nach einer Konvention – der AVV – angesetzt. Die AVV wurde für Belastungen aus Kernkraftwerken aufgestellt und sind für Endlager eigentlich nicht zutreffend, denn sie berücksichtigt nur die aktuelle Ernährungsgewohnheit. Im Nachgang zu den Sicherheitsanforderungen 2010 sollte eine Leitlinie entwickelt werden, wie bei Freisetzung aus Endlagern Dosiswerte abgeschätzt werden sollen. Ein entsprechender Auftrag im Jahr 2012 an die SSK wurde nicht bearbeitet. Zurzeit sind BfS in Zusammenarbeit mit BfE vom BMU beauftragt, eine solche Abschätzungsvorschrift zu entwickeln.

Veränderung der Ernährungsgewohnheiten durch Veränderung des Klimas

In einer Studie (Becker 2003) wurden auf der Grundlage der europäischen Bandbreite des aktuellen Klimas und der Ernährungsgewohnheiten – von Lappland bis Italien – Abschätzungen der Vertrauensbereiche durchgeführt. Diese Arbeit von 2003 wurde im ZERAM-Stilllegungsplan von 2009 nicht berücksichtigt.

Biosphärenmodell als Konvention

Diese Ungewissheiten werden durch eine Konvention – genannt Biosphärenmodell – eingefangen. Die Strahlenbelastung ist dann nicht mehr die reale Belastung, sondern wird als Indikator bezeichnet. Dieser Indikator wird aber trotzdem mit den Grenzwerten für die reale Strahlenbelastung verglichen.

Konservative Annahmen und probabilistische Rechnungen

Wie geht man mit unsicheren numerischen Daten um, wenn es keine Konvention gibt? Man kann sog. konservative Annahmen machen. Man wählt den ungünstigsten Wert, d. h. den, der zur größten Strahlenbelastung führt. Diese Entscheidung ist aber oft nicht möglich, da das auch von den anderen Parameterwerten abhängt (Niemeyer 2004). Deshalb muss man statistische Methoden anwenden, sogenannte probabilistische Rechnungen (Monte-Carlo-Methode).

Unterschiedliche Szenarien

Wenn es sich nicht nur um numerische Probleme handelt, sondern unterschiedliche Entwicklungen vorstellbar sind, setzt man unterschiedliche Szenarien an und schätzt deren Auswirkungen ab. Beim ZERAM sind im Wesentlichen zwei Szenarien betrachtet worden:

  • Szenario trockene Grube
  • Szenario mit relevantem Lösungszutritt

Die ESK-Stellungnahme zu Ungewissheiten

In der ESK-Stellungnahme 2013 wird gefordert, mit Ungewissheiten systematisch umzugehen. Es werden sechs Bereiche genannt:

  1. Umgang mit Ungewissheiten aus der Standortcharakterisierung:
    hydrogeologisches Modell mit Angabe von Durchlässigkeiten mit Bandbreiten
  2. Umgang mit Ungewissheiten bezüglich der zukünftigen Entwicklung:
    Entwicklung unterschiedlicher Szenarien und deren Analyse
  3. Umgang mit Ungewissheiten aus nicht prognostizierbaren zukünftigen Entwicklungen:
    Permafrost, Eisüberfahrung während einer Eiszeit, es fehlt arides Klima mit nicht grundwassergesättigten Schichten
  4. Umgang mit Ungewissheiten bei der Modellierung der Standortgegebenheiten:
    Vereinfachung der komplizierten geometrischen Bergwerksstruktur zu im Wesentlichen drei Kompartimenten als Bergwerk, vereinfachter Salzstock, Hutgestein, Deckgebirge
  5. Umgang mit Ungewissheiten bei der modellhaften Beschreibung von am Standort ablaufenden Prozessen:
    Gasbildung, Transportprozesse, zum Beispiel Nichtberücksichtigung der Zweiphasenströmung
  6. Umgang mit Ungewissheiten bzgl. der Daten und der Parameter:
    probabilistische Berücksichtigung (Monte Carlo) auf der Grundlage des vereinfachten Modells

Gerade im Punkt 3 kann nicht mehr von Ungewissheiten gesprochen werden. Hier herrscht das Nichtwissen vor. Die ESK-Stellungnahme geht auf ein Papier aus dem Jahr 2007 zurück (Vigfusson 2007), das die Berücksichtigung von Ungewissheiten bei Safety Cases behandelt.

Wissenschaftsforschung und Soziologie des Nichtwissens

Nach dem Atomgesetz ist der Stand von Wissenschaft und Technik zu berücksichtigen. Es ist also notwendig, alle Wissenschaftsbereiche zu betrachten. Ungewissheit und Nichtwissen sind Begrifflichkeiten in der Entscheidungstheorie, die in der Wissenschaftsforschung und der Soziologie ausführlich behandelt werden. Eine umfangreiche Einführung, die neben theoretische Abhandlungen auch konkrete Beispiele liefert, ist das Werk von Peter Wehling (Wehling 2006).
In (Ravetz 1986) wird die Rolle des Nichtwissens in der Wissenschaft auch am Beispiel des Problems radioaktiver Abfälle betrachtet, 20 Jahre vor der Behandlung in der oben genannten Studie zum Safety Case.

Auch die Frage, ob Irrtum (ZERAM – Streckenabdichtung im Anhydrit mit entsprechender Qualität machbar) eine Kategorie des Nichtwissens ist, wird diskutiert (Wehling 2006, S. 113-115).

In Wissenschaftsbereichen, wo Nichtwissen nicht auszuschließen ist, muss das Instrument Peer Review erweitert werden zu Extended Peer Review, denn das Nichtwissen kann nicht nur von Experten eingeschätzt werden (Ravetz 2004). Gerade Experten neigen zur Verdrängung des Nichtwissens, bezeichnet auch als Fachidiotentum. Prägnant formulierte dies (Ewald 1998) Bahn frei für die wildesten Spekulationen und verrücktesten Phantasmen. Dazu siehe auch (Mehnert 2009).

ENTRIA und Nichtwissen

Im Projekt ENTRIA wurde Nichtwissen in Zusammenhang mit Endlagerung beleuchtet (ENTRIA 2019). Betont wird, dass zu Gelingensbedingungen der Endlagerung öffentliche Reflexion über und Umgang mit Nichtwissen gehört (S. 213). Hier gilt es offensichtlich von Schweden zu lernen, siehe Der Umgang mit Nicht-Wissen in Schweden (S. 348 bis 352).

ENTRIA und Safety Case

In (Röhlig 2016) S. 77-87 – siehe auch (Röhlig 2017) – wird sich dafür ausgesprochen, den Safety Case in einer transdisziplinären Weise zu erarbeiten. Die Beteiligung von Stakeholdern verspricht eine Erhöhung der Verständlichkeit und Akzeptabilität. Die Problematik des Nichtwissens wird nicht angeführt, obwohl mit solch einem Vorgehen die Forderung nach einem Extended Peer Review erfüllt wäre.

Fazit

Die Entwicklung eines Safety Case zum ERAM in transdisziplinärer Arbeitweise wäre notwendig, wenn der Stand von Wissenschaft und Technik berücksichtigt werden soll und nicht nur der Stand der Naturwissenschaften und der Endlagertechniken.


Becker 2003: Becker, A.(2003). Beitrag zur Erstellung einer Referenzbiosphäre zur Berechnung der in der Nachbetriebsphase eines Endlagers für radioaktive Stoffe hervorgerufenen potentiellen Strahlenexposition unter Berücksichtigung des Einflusses des Klimas, BMU.

Catlow 2005: Catlow, S. A., G. L. Troyer, et al. (2005). „Half-life maesurement of 126Sn isolated from Hanford nuclear defense waste.“ in: Journal of Radioanalytical and Nuclear Chemistry 263(3): 599-603.

ENTRIA 2019: ENTRIA (2019). Entsorgungsoptionen für radioaktive Reststoffe: Interdisziplinäre Analysen und Entwicklung von Bewertungsgrundlagen (ENTRIA, 2013-2018): Abschlussbericht – Ergebnisse und Leistungsbilanz.

Ewald 1998: Ewald, F. (1998). Die Rückkehr des genius malignus: Entwurf einer Philosophie der Vorbeugung. Soziale Welt 49: 5-24, hier S. 16f. nach (Wehling 2006): S. 288.

Mehnert 2009: Mehnert, M.(2009). Öffentlichkeitsarbeit/Bürgerbeteiligung zum Projekt ERAM – 27.02.2009.

Niemeyer 2004: Niemeyer, D. M., D. G. Resele, et al. (2004). Probabilistic Safety Assessment for the Morsleben Repository. DisTec 2004 – International Conference on Radioactive Waste Disposal Berlin, Germany.

Ravetz 1986: Ravetz, J. (1986). Usable knowledge, usable ignorance. In: W. C. Clark/R. E. Munn (eds.): Sustainable Development of the Biosphere. Cambridge: Cambridge Univ. Press. S. 415-432, hier S. 423 nach (Wehling 2006): S. 100.

Ravetz 2004: Ravetz, J. (2004). The post-normal science of precaution. Futures 36: 347-357 nach (Wehling 2006): S. 288

Röhlig 2016: Röhlig, K.-J., P. Hocke: Safety Case, Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. In Smeddinck, U., S. Kuppler, et al., Hrsg. (2016). Inter- und Transdisziplinarität bei der Entsorgung radioaktiver Reststoffe. Wiesbaden, Springer Vieweg.

Röhlig 2017: Röhlig, K.-J., A. Eckhardt: Primat der Sicherheit – Ja, aber welche Sicherheit ist gemeint? (2017). „Primat der Sicherheit – Ja, aber welche Sicherheit ist gemeint?“. GAiA 26(2): 103-105.

Songsheng 1997: Songsheng, J., G. Jingru, et al. (1997). „Determination of half-life of Se-79 with the accelerator mass spectrometry technique.“ in: Nuclear Instruments and Methods in Physics Research B 123: 405-409.

Vigfusson 2007: Vigfusson, J., J. Maudoux, et al.(2007). European Pilot Study on The Regulatory Review of the Safety Case for Geological Disposal of Radioactive Waste – Case Study: Uncertainties and their Management

Wehling 2006: Wehling, P.(2006). Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens.

2 Gedanken zu „ZERAM: Wissen, Ungewissheiten und Nichtwissen

  1. Weil die Dosiskoeffizienten tatsächlich „nicht wirkliche wissenschaftliche Parameter“ sind, gehört das zugrundeliegende Dosiskonzept [Energie/Masse] eigentlich auch in die „Liste der Ungewissheiten“. Weitere fehlende zentrale „Ungewissheiten“ sind dementsprechend: 1. konkrete und nicht nur pauschale Gesundheitsrisiken pro nuklidspezifischer Dosiseinheit. 2. Dosiskonzept, Dosiskoeffizienten und Risikokoeffizienten für Keimzellen, Embryonen und Föten. Das SICHERE UNWISSEN ist in den „Endlagerfragen“ schier grenzenlos: sowohl in der Geologie als auch beim Gesundheitsrisiko und im Strahlenschutz. Auf der ganzen Linie fehlt die Bereitschaft sich dieses Unwissen einzugestehen, bis hin zu „aggressiver Ignoranz“ einzelner Akteure und Institutionen. Bei Bedarf kann ich hier konkrete Beispiele beisteuern. Der gesamte Mythos Endlagerung wird im Übrigen mitgetragen von organisierter Verantwortungslosigkeit oder mangelndem Aufklärungswillen in Bevölkerung, Industrie, Medien Verwaltung und Politik.

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