Lektüreempfehlung: Gorleben Rundschau III-IV/2020

Ein Meisterwerk aus dem Wendland

Das aktuelle Heft der Gorleben Rundschau ist wieder ein Meisterwerk aus dem Wendland. Der BI Lüchow-Dannenberg sei Dank.

Krisen vernünftig, wissenschaftsbasiert und solidarisch begegnen

Schon im Editorial gibt es folgende denkwürdige Passage:

…Vor dem Hintergrund existenzieller Bedrohung werden mit einem Mal aber auch gesellschaftliche Veränderungen möglich, die wir uns vor kurzem noch garnicht hatten vorstellen können. Vielleicht sollten wir uns diese Möglichkeiten auch dann noch in Erinnerung rufen, wenn wir das Schlimmste überstanden haben werden, und gut abwägen, ob wir gemeinsam nicht auch anderen Krisen vernünftig, wissenschaftsbasiert und solidarisch begegnen könnten…

Ausgearbeitete Konzepte liegen bereits vor und müssen lediglich noch breiter diskutiert werden, damit sie praxistauglich werden. Es drängt sich förmlich das Buch Die Große Transformation – Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels (2018) auf – siehe auch Kurzskizze (YouTube) und Ringvorlesung (YouTube).

Wir brauchen von Bund und Land eine Art „Marshall-Plan“

Auf Seite 5 werden die Wirkungen der Corona-Krise auf den Landkreis geschildert – insbesondere vor dem Hintergrund der Absage der traditionellen Kulturellen Landpartie. Unter anderem wird ausgeführt:

…Deswegen brauchen wir von Bund und Land eine Art „Marshall-Plan“ wie nach dem zweiten Weltkrieg für den Wiederaufbau unserer Wirtschaft, weil sonst viele Arbeitsplätze und Existenzen vernichtet werden. Vielleicht nicht Autobahn und 5G, aber ein flächendeckendes 4G-Netz, der zügige Ausbau der Bahnstrecken insbesondere für den Tourismus, Sonderöffnungen für touristisch relevante Betriebe sind mögliche Themen für eine nachhaltige Unterstützung für Lüchow-Dannenberg…

Nicht alle sind böse

Im Jahresbericht der BI wird auf Seite 10 zum StandAG und zu deren Umsetzung kritisch angemerkt:

…Damit wir uns richtig verstehen: wir sind nicht der Auffassung, dass alle Konstrukteure des Gesetzes oder alle Protagonisten seiner Umsetzung ausschließlich Böses im Schilde führen. Auch wenn wir das Gesetz abgelehnt haben, haben wir doch wahrgenommen, dass fast die Hälfte der daran Beteiligten glaubwürdig nach einer verantwortungsvollen Lösung für den Verbleib des atomaren Mülls gesucht hat und verlässlich für den Atomausstieg steht. Wir haben aber ebenfalls gesehen, dass im verkürzten Beratungsverfahren nicht der Konsens gesucht und die Zivilgesellschaft nicht angemessen beteiligt wurde, sondern vielmehr die kritischen Stimmen im politischen Alltagsgeschäft vorschnell übertönt wurden….

Das Gorleben-Kapitel

Auf den Seiten 13 bis 15 wird ein Formulierungsvorschlag zu dem Gorleben-Kapitel im Zwischenbericht Teilgebiete gemacht. Ein solches Kapitel ist auf den Tagen zur Standortauswahl seitens der BGE zugesagt worden. Die Überschrift lautet:

Das Gorleben-Kapitel: Ende in Sicht? Nach 43 Jahren könnte Gorleben aus dem Verfahren fallen!

Man beachte das Fragezeichen und das Ausrufezeichen. Das Kapitel schließt mit:

Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg erhebt darum erneut Forderungen: „Keine weitere Hinhaltetaktik! Unter den gegebenen gesetzlichen Voraussetzungen erwarten wir, dass zum Salzstock Gorleben-Rambow im dritten Quartal 2020 im Zwischenbericht der BGE umfassend und klar Stellung genommen wird und dass der Standort bei der Benennung der Teilgebiete unter Würdigung der Ausschluss- und Abwägungskriterien, vor allem in deren Interdependenz, herausfällt.“ Doch selbst wenn Gorleben im dritten Quartal 2020 aufgegeben würde, bliebe das Wendland unmittelbar betroffen: So könnten Salzstöcke in unmittelbarer Nachbarschaft wie im Raum Gülze-Sumte und in Waddekath in den Fokus der Endlagersuche geraten.

Zum lernenden Verfahren

Im Text ist noch ein interessantes Zitat hervorzuheben, das das lernende Verfahren in Augenschein nimmt:

Hans Hagedorn, der heute als Partizipationsbeauftragter des Nationalen Begleitgremiums (NBG) arbeitet und selbst in der Endlagerkommission mitgewirkt hat, sagt aus heutiger Sicht dazu: „Ich bin oft verblüfft, wie sehr die Vorarbeiten des Gesetzgebers als unveränderlich hingenommen werden. Natürlich sind viele Paragrafen das Ergebnis intensiver Debatten und Kompromisse, aber ich weiß aus der Kommissionsarbeit, dass manche Regelungen einfach auf Zufällen basieren oder auf Annahmen, die sich heute ganz anders darstellen. Der Anspruch des lernenden Verfahrens muss auch für den Gesetzgeber gelten.“

Perkolation im Steinsalz

Auf den Seiten 16 f. geht es unter anderem um Perkolation im Steinsalz. Zitiert wird aus dem  Zwischenbericht zum BfE-Vorschungsvorhaben Überprüfung des perkolationsgetriebenen Transports von Fluiden im Wirtsgestein Steinsalz unter relevanten Bedingungen für ein Endlager (PeTroS) (Seite 5):

Ein direkter experimenteller Nachweis des Auftretens oder Ausbleibens von Perkolation in natürlichem Steinsalz unter endlagerrelevanten Druck- und Temperaturbedingungen wurde noch nicht erbracht. Das ausgeschriebene Vorhaben soll diese Lücke schließen und überprüfen, ob die diskutierte hohe Mobilität von Fluiden in Salzformationen bei Temperaturen zwischen 100°C und maximal 200°C experimentell nachgewiesen bzw. ausgeschlossen werden kann.

Bemerkenswert ist, dass es zu diesem Forschungsprojekt immer noch keinen abgenommenen Endbericht gibt. Der fünfte Anlauf von endlagerdialog.de, Licht in das Dunkle dieser Sache zu bringen, läuft seit dem 16.04.2020. Bisher ohne Erfolg. Vielleicht ist ja etwas Relevantes bei der EGU-Jahrestagung 2020 im Beitrag Towards best possible safety – Current regulatory research for the German site selection process for high-level radioactive waste disposal zu erfahren gewesen. Im Abstract ist Folgendes zu lesen:

Key requirement for safe geological disposal of nuclear waste is barrier integrity. The project PeTroS experimentally studied potential percolation mechanisms of fluids within rock salt at isotropic conditions at disposal relevant pressures and temperatures.

Helium und andere neuen chemischen Elemente

Auf den Seiten 18 f. wird die Entstehung von Helium durch die alpha-Strahler in den radioaktiven Abfällen problematisiert, wie es bereits von der BI auf der BGE-Tagung im Dezember vorgebracht wurde – siehe Beitrag Endlagersuche ist kein Altherrenprojekt im Absatz Gasdruck durch Heliumfreisetzung von Alpha-Strahlern. In der Literatur ist dazu wenig zu finden, lediglich in einer SKB-Quelle ist etwas zu lesen ((2010) Fuel and canister process report for the safety assessment SR-Site., p. 69). Wie in der Regel gut unterrichtete Kreise mitteilen, gibt es dazu inzwischen ein GRS-Papier, was jedoch nicht veröffentlicht ist. Bei genauerer Betrachtung fällt Folgendes auf: Im radioaktiven Abfall werden durch den radioaktiven Abfall aus den ursprünglichen chemischen Elementen andere gebildet (Blei zu Gold). Welche Auswirkungen können diese Umwandlungen haben, welche Chemismen werden möglich? Die entstehenden Elemente werden in den entsprechenden Studien (z. B. Forschungsvorhaben Chemisch-toxische Stoffe in einem Endlager für hochradioaktive Abfälle – APII –Inventar chemotoxischer Stoffe) – meines Wissens nach – bei der chemotoxischen Betrachtung nicht berücksichtigt.

Institutionelle Gegenexpertise

Schließlich wird auf Seite 20 f. noch über die Abschlussveranstaltung des Projekts SOTEC-radio berichtet. Unter anderem wird auf wissenschaftliche Dissense fokussiert:

Das SOTEC-radio-Team hat hier Einsichten sowohl aus der bestehenden Literatur als auch der empirischen Analyse von Fällen bereitgestellt, welche Rolle Expert/-innen und deren Dissense für politische Entscheidungsprozesse einnehmen. Wesentliche Aussagen waren hier, dass erstens der Begriff der/s Expert/-innen nicht zu eng gefasst werden sollte, weil viele Menschen verschiedener Akteursgruppen sich erhebliches Sonderwissen angeeignet hätten. Deren Perspektiven auf den Prozess gelte es fruchtbar zu nutzen. Damit Auseinandersetzungen aber nicht Unsicherheit und Misstrauen schüren, müssten die Dissense in die „richtigen Arenen“ eingebracht, moderiert und transparent aufbereitet werden. Insgesamt aber, und dies war an die Entscheidungsträger im Verfahren gerichtet, sei das wichtig, was Ulrich Beck als institutionelle Gegenexpertise bezeichnete, nämlich Gegenexpertise aktiv einzufordern und in den Prozess (selbst-)kritisch aufzunehmen.
Bereits am Abend zuvor machte Armin Grunwald vom ITAS Karlsruhe bei seiner Keynote auf die Tatsache aufmerksam, dass Kritik für ein solches Verfahren ein wertvolles Gut darstelle. Sie sei notwendig, um neue Perspektiven auf das Problem zu gewinnen und das wichtige „Denken in Alternativen“ lebendig zu halten und Betriebsblindheit vorzubeugen. So solle auch die Wissenschaft ihre eigene Rolle dahingehend verstehen, die Politik im positiven Sinne zu irritieren.

Fazit

Alle Mitabeiter*innen, die sich zurzeit mit Endlagerung befassen, und darüber hinaus weitere Interessierte sollten dieses Heft lesen. Es wird ein Gewinn sein!

5 Gedanken zu „Lektüreempfehlung: Gorleben Rundschau III-IV/2020

  1. GRS-Papier zur Heliumproduktion doch öffentlich

    Wie ein eifriger Leser mitteilte, ist das oben genannte GRS-Papier zur Heliumproduktion doch öffentlich zugänglich – siehe hier.

    endlagerdialog.de hatte das Papier bei der Formulierung des Beitrags über die einschlägige Suchmaschine gesucht, aber nicht gefunden. Vielleicht wurde ein Tippfehler gemacht?

    Ohne Suchmaschine ist das Papier schwierig zu finden: BGE > Endlagersuche > Wesentliche Unterlagen > Fachdiskussionen > Forschungsprojekte

  2. Fünfter Anlauf zur Perkolations-Studie gescheitert

    Der fünfte Anlauf auf Einblick in den Abschlussbericht des BfE-Forschungsvorhabens ist gescheitert – siehe hier. Der öffentliche Bericht des bis zum 12.2018 befristeten Forschungsvorhabens wird jetzt für Ende zweites Quartal 2020 in Aussicht gestellt. Er wird also frühestens 18 Monate nach Ende des Projekts vorliegen.

    Aber es gibt auch eine positive Nachricht: Das Forschungsvorhaben steht jetzt endlich auf der BaSE-Internetseite unter der Rubrik Aktuelle Forschungsprojekte. Damit ist ein Minimum an Transparenz geschafft.

  3. Da stoßen mir doch 2 Aussagen etwas sauer auf. Zunächst diese:
    „Auch wenn wir das Gesetz abgelehnt haben, haben wir doch wahrgenommen, dass fast die Hälfte der daran Beteiligten glaubwürdig nach einer verantwortungsvollen Lösung für den Verbleib des atomaren Mülls gesucht hat…“ Oder anders gesagt: Der Mehrzahl spricht die BI eben dieses ab. Da klingt schon sehr nach Aluhut und bedarf zumindest einer sehr guten Untermauerung. In jedem Fall ist es ein ziemlich mieser Umgangston und keine gute Art einen Dialog zu starten..

    Die zweite Aussage ist diese: „Unter den gegebenen gesetzlichen Voraussetzungen erwarten wir, dass zum Salzstock Gorleben-Rambow im dritten Quartal 2020 im Zwischenbericht der BGE umfassend und klar Stellung genommen wird “
    Mit einem Wort soll man sich einen Teufel um das gesetzlich vorgegebene Verfahren scheren und jetzt schon mal für Gorleben eine Aussage machen. Ziemlicher Unsinn und in keinem Fall konstruktiv…

  4. „Lektüreempfehlung“? „Meisterwerk aus dem Wendland“? Das ist hoffentlich ironisch gemeint.

    Die gönnerhaft großzügig gesetzte Passage: „Wir haben wahrgenommen, dass fast die Hälfte der /am Gesetz und dessen Umsetzung/ Beteiligten glaubwürdig nach einer verantwortungsvollen Lösung für den Verbleib des atomaren Mülls gesucht hat und verlässlich für den Atomausstieg steht,“ ist eine Unverschämtheit gegenüber all denjenigen, die an der Lösung eines gesellschaftlichen Großproblems arbeiten, ohne dabei das Gorlebener Glaubensbekenntnis nachzubeten. Außerdem offenbart die Aufteilung in die Gruppen der Guten und der Bösen ein vorsintflutliches Verständnis der Rollen der beteiligten Akteure. Bürgerinitiativen könnten eine Schlüsselrolle spielen, wenn sie ihre Freiheiten dazu nutzten, die entscheidenden Nachjustierungen im Prozess zu erreichen. Dafür wäre es aber wichtig, die beteiligten Mechanismen zu verstehen. Stattdessen begnügt man sich bei der BI damit, Gut und Böse wahrzunehmen…

    Das soll „ein Gewinn sein“?

  5. Vielleicht sollte ich diese Veröffentlichung öfter mal lesen. Mir ist da jetzt noch folgendes Schätzchen ins Auge gefallen:
    „Wir denken vor diesem Hintergrund eher, dass der Wettstreit, ob nun die alten, greisen Kader mit ihrer stetigen Verharmlosung nuklearer Bedrohung und ihren devoten Vorstellungen von Bürgerrechten sich wieder durchsetzen werden oder aber der angebliche neue Geist des Gesetzes die Oberhand gewinnen kann, noch gar nicht ausgetragen ist.“
    Wer bitte sollen denn diese greisen Gesellen ohne Sinn für Bürgerrechte sein? Die unreflektierte Diffamierung einer gefühlten Gegenseite ist mit Sicherheit keine Glanztat. Wissenschaftler, die jetzt an einer Lösung arbeiten, waren an den Kämpfen der 80er und 90er nicht beteiligt und müssen sich für tatsächliche oder gefühlte Missstände aus der Jugend des Autors nicht beleidigen lassen.
    Oder um es als Frage zu formulieren: Wie genau soll denn ein Wissenschaftler, der NICHT mit der BI übereinstimmt noch auf eine sachliche Auseinandersetzung hoffen?

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