Sozio-technische Betrachtungsweise des Atommüllproblems

kewaGrundlagen und Leitziele der Kommission

Unter dem Titel Grundlagen und Leitziele der Kommission wurde jetzt die zweite Version einer sozio-technischen Betrachtung des Atommüllproblems des Vorsitzenden Michael Müller verfügbar gemacht.

Sozio-technische Betrachtung als Aufgabe der Technikfolgen-Abschätzung

Erstaunlich ist, dass dies nicht durch die Wissenschaft – und speziell von dem mit solchen Studien befassten Wissenschaftler – eingebracht wurde, sondern vom Vorsitz. Schließlich ist auch in der Periode von 2013 bis 2018 das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit seinem Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) unter der Leitung von Prof. Dr. Armin Grunwald mit der Betreibung des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) beauftragt worden. Wie Michael Müller, der als Vorsitzender der Kommission im Wesentlichen für die Moderation der Kommission zuständig ist, dazu kommt, solch ein Papier vorzulegen, wird wohl ein Rätsel bleiben. Offensichtlich hat Herr Grunwald nicht wirklich Interesse an der Kommissionsarbeit, siehe auch Beitrag Endlagersuche: Die sozialwissenschaftlichen Kriterien werden es schwer haben.

Gedankengang richtig und nachvollziehbar

Doch nun zum Inhalt des Papiers. Abgesehen von der sprachlichen Gestaltung, die zwischen soziologischem Kauderwelsch und politischen Proklamationen schwankt, und den fehlenden konkreten Fundstellen der zahlreichen Literaturstellen – die Seitenzahlen fehlen durchgehend, ist der Gedankengang richtig und nachvollziehbar dargestellt. Nur an zwei Stellen sind Auslassungen gemacht worden, die geschlossen werden sollten.

1. Auslassung – Deutsche Atomtechnik als Bombentechnologie

So wird auf Seite 10 durchaus richtig festgestellt:

Die Bonner Atompolitik hatte durchaus militärische Ambitionen, denn Konrad Adenauer misstraute dem amerikanischen Atomschirm und dachte an eine deutsche Option auf Atomwaffen.

Leider wird aber die Stelle in Schwarz, H.-P. (1961). Konrad Adenauer 1952 – 1967 nicht explizit angegeben – gemeint ist höchstwahrscheinlich Band 2, Seite 299 – und es werden nicht weitere Querverbindungen zum Betreiben der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (Seite 15) als Anlage zum Know-how-Erwerb der Bombentechnologie gezogen. Daraus ergäbe sich die Konsequenz, die Asse als militärische Altlast anzusehen ist. Positiv ist zu vermerken, dass Asse II nicht als einmaliger Sündenfall hochstilisiert wird, der er nicht ist.

2. Auslassung – Endlagersuche vor 1977

Wichtiger für den Endlagersuchprozess ist aber die Auslassung auf Seite 15 f.:

Ende 1976 tauchte erstmals Gorleben als möglicher Endlager-Standort auf,….

Nur kurze Zeit später, im März 1977, legte die niedersächsische Landesregierung den Ort im Wendland als „vorläufigen“ Standort fest. 1979 begannen die Untersuchungen des Salzstocks,…..

An diese Stelle gehört erwähnt, dass vor 1977 von der damals als zuständig betrachteten Industrie eine vergleichende Standortsuche für ein Entsorgungszentrum inklusive Endlagerung durchgeführt wurde, siehe KEWA-Studien 1974, 1977 und 1977.

 4. AtG-Novelle, AkEnd und Bund-Länder-Vereinbarung am 11.11.2011

Begleitet durch die Übernahme der Endlagerzuständigkeit durch den Staat mit Inkrafttreten der 4. Novelle des Atomgesetzes im Jahr 1976 wurde diese wissenschaftlich fundierte Suchmethode durch die politisch entschiedene Untersuchung eines einzelnen Standorts ersetzt. Erst durch den AkEnd und durch die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern vom 11.11.2011 wurde die vergleichende Standortsuche als einzig wissenschaftlich vertretbare Methode wieder zurückgeholt.

 Atommüllproblematik ist nicht so einzigartig

An vielen Stellen des Papiers wird die Atommüllproblematik als einzigartig dargestellt. Aus der Sicht der Technikbewertung nehmen die Atomkraftnutzung und die Langzeitlagerung radioaktiver Abfälle nicht solch einen prominenten Platz ein. Es gab in der Menschheitsgeschichte durchaus Entwicklungen, die Mensch und Umwelt über lange Zeit belastet haben und weiterhin belasten. Ein Beispiel aus der Vergangenheit ist die Entwaldung des mediterranen Raums im Altertum. In der heutigen Zeit ist es zum Beispiel die Chemische Industrie mit dem Problem der hochtoxischen, nicht abbaubaren Sonderabfälle.

 Hochtoxische, nicht abbaubare Sonderabfälle der Chemischen Industrie


Ein Vergleich zwischen den hochtoxischen Sonderabfällen der Chemischen Industrie und den hochradioaktiven Abfällen der Energiewirtschaft wäre wissenschaftlich angebracht. Wie kam man zum Beispiel zu den fünf genehmigten Sondermüll-Untertagedeponien in Deutschland? Siehe Beiträge Anmerkungen zu “Salzstock Gorleben bleibt erste Wahl” (Merkel 1995), “Kein Endlager-Standort in [Bundesland xy]“? und www.keineahnung.de – die Zweite und Dritte

Strahlenschutz wird vollständig ausgeblendet

Gänzlich vermisst wird in dem Papier die Betrachtung der Langzeitlagerung als Maßnahme des Strahlenschutzes. Die sogenannte Endlagerung radioaktiver Abfälle ist eine reine Strahlenschutzmaßnahme. Deshalb müssen die über gut hundert Jahre gewachsenen gesellschaftlich-ethischen Regelungen dieses Fachgebietes vor dem Hintergrund der Atommüllproblematik diskutiert werden.

Ethical Issues in Radiation Protection

Als Einstieg ist dabei das Papier Ethical Issues in Radiation Protection zu empfehlen. Was bedeuten Rechtfertigung, Optimierung und Risikobegrenzung im Hinblick auf Langzeitlagerung? Ist das Prinzip der Risikobegrenzung überhaupt anwendbar, wenn nicht einmal eine Klärung der entsprechenden Größe Dosis bei der Endlagerung bisher möglich war? Oder sind Risiken zu erwarten, die mit dem bisherigen Dosiskonzept unter Umständen nicht gefasst werden können – siehe Geschlechterverhältnis etc.?

Die Grundsätze des Strahlenschutzes und das Nichtwissen

Die Grundsätze des Strahlenschutzes führen bei der Langzeitlagerung von Atommüll vor dem Hintergrund des umfangreichen Nichtwissens schon aufgrund der zu betrachtenden Zeitdimensionen zwangweise zur Beteiligung der Bürger, zu Kommunikationsformen wie der Risikokommunikation und zur komparativen Standortsuche. Sie entlarven die frühzeitige Konzentration auf einen Standort wie Gorleben als Verstoß gegen die Regelungen des Strahlenschutzes.

Nicht konsensfähig?

Ansonsten ist erstaunlich, weshalb die erste Version des Papiers in der Endlagerkommission als nicht konsensfähig  deklariert wurde. Was stand überhaupt in der ersten Version? Wie unterschied sie sich von der zweiten? Leider kann das immer noch nicht festgestellt werden, da selbst der Antrag auf Einsichtnahme nach dem Informationsfreiheitsgesetz nicht fristgerecht entschieden wurde.