Die Wiederentdeckung der Unsicherheiten und des Nichtwissens

OECD_NEABeitrag zu einem OECD-NEA Symposium

Im Rahmen des Forschungsprojekts ENTRIA haben Hocke und Röhlig für ein OECD-NEA Symposium ein lesenswertes Papier erarbeitet. Es geht um die externe Kommunikation von Safety Case Results – im Deutschen offiziell immer noch mit Langzeitsicherheitsnachweis bezeichnet.

Unsicherheiten und Nichtwissen bei der externen Kommunikation

Sie kommen zu dem Schluss, dass bei der externen Kommunikation zur Sicherheit von Endlagern insbesondere die Unsicherheiten und das Nichtwissen mitkommuniziert werden müssen. Es stellt sich die Frage, weshalb diese Aspekte bei den EndlagerexpertInnen nicht schon in Fachdiskussion – in der internen Kommunikation im Elfenbeinturm der Wissenschaften – eine wesentliche Rolle spielten?

Unsicherheiten als Basiswissen in den Naturwissenschaften

Jede StudentIn der Naturwissenschaften lernt in den Anfangssemestern in Praktika, dass statische und systematische Fehler bei jeder experimentellen Arbeit auftreten.

Sobald man mit der Sprache der Mathematik die natürliche Umwelt beschreibt, müssen Unsicherheiten berücksichtigt werden. Das lernt man zum Beispiel im Physik-Grundpraktikum. Selbst bei der primitiven Messung der Länge bekommt man bei zehn Messungen unterschiedliche Ergebnisse. Diese Messfehler muss man bei der weiteren Verwendung des Messwertes berücksichtigen, am einfachsten mit der Gaußchen Fehlerfortpflanzung. Konsequent gelten alle Ergebnisse in naturwissenschaftlichen Praktika ohne Angabe des statistischen Fehlers und ohne Diskussion der möglichen systematischen Fehler als falsch. Weiterhin wird in diesem Rahmen auch klar, dass Prognosen – also Extrapolationen – sehr mit Vorsicht zu genießen sind. Der validere Weg ist – wenn möglich – auf Interpolationen zurückzugreifen.

Methodik des Safety Case

Was wird nun bei einem Safety Case gemacht? Mit einer Vielzahl von geologischen und technischen Parametern werden unter Annahme von zeitlichen Entwicklungsszenarien Prognosen über sehr lange Zeiträume angestellt. Immerhin ist man so ehrlich, wegen mangelnder Prognosesicherheit auf eine Million Jahre zu beschränken. Die Unsicherheiten bei den Eingangsparametern werden in der Regel durch probabilistische Rechnungen berücksichtigt. Eine systematische Berücksichtigung des Nichtwissens findet nicht statt. Weiterhin bleibt undiskutiert die besondere Rolle der subjektiven Stochastik, denn es geht in der Regel um ein einzelnes Endlager und nicht um eine große Anzahl.

Aus wissenschaftlicher Sicht stehen  Unsicherheiten und das Nichtwissen im Vordergrund

Wer also wissenschaftlich an den Safety Case herangeht, wird immer die Unsicherheiten und das Nichtwissen in den Vordergrund schieben müssen. Konsequenterweise gibt es also aus wissenschaftlicher Sicht kein sicheres Endlager. Es gibt lediglich Langzeitlager mit mehr oder weniger großen Langzeitrisiken.

Euphorie über numerische Rechenergebnisse und wissenschaftliche Grundausbildung

Weshalb konnten ExpertInnen in der Vergangenheit zu dem Schluss kommen, ein Endlager sei sicher? An den Naturwissenschaften kann es nicht gelegen haben. Verständlich ist es lediglich dadurch, dass durch Euphorie über numerische Rechenergebnisse zu Sicherheitsindikatoren die wissenschaftliche Grundausbildung verdrängt wurde.

Das sogenannte sichere Endlager als der einfachere Weg

Hier kann auch ein gesellschaftlicher Druck eine Rolle gespielt haben. Wenn man Atomkraft nutzt, erzeugt man radioaktive Abfälle. Und ohne ein sogenanntes sicheres Endlager ist es aufwendig, die Nutzung der Atomkraft – insbesondere bei vorliegenden Alternativen – in der Gesellschaft zu vertreten. Denn dann muss man sich auf Nutzen-Risiko-Diskussionen einlassen. Man kommt nicht um den Rechtfertigungs- und den Minimierungsgrundsatz des Strahlenschutzes herum. Der einfachere Weg führt über das sogenannte sichere Endlager.

Der Ausstieg aus der Atomkraftnutzung macht Wissenschaft wieder möglich

Es ist zu begrüßen, dass im Zuge des Verzichts auf die weitere Atomkraftnutzung die EndlagerexpertInnen zum wissenschaftlichen Basiswissen zurückkehren, auch wenn ihnen dies erst bei der externen Kommunikation mit den BürgerInnen wieder einfällt.

Vereinzelt ist eine realistische Einschätzung der Methodik des Safety Case aber auch schon vor dem Ausstieg angedeutet worden, siehe zum Beispiel hier.

5 Gedanken zu „Die Wiederentdeckung der Unsicherheiten und des Nichtwissens

  1. Ich glaube, ihr Text verwechselt safety case und safety assessment, oder?
    Abgesehen davon erscheint mir das jetzt etwas unfair.
    Es gibt eine normale Art, den Begriff „sicher“ zu gebrauche. Das heisst dann sinngemaess „ich mach mit lieber um andere Dinge Sorgen“. Philosophisch ist das mit dem „nachweislich sicher“ so eine Sache. Ausserhalb der Mathematik kann man nichts „nachweisen“. Es ist immer nur plausibel und noch nicht widerlegt. Ich kann auch nicht nachweisen, dass Milch von Demeter (oder nicht esoterischen Anbietern) sicher ist (egal was und wie viel ich messe). Ich kann es nur plausibel finden!
    Wenn ich das bisher richtig verstanden habe, sind die gewaehlten sog,. konservativen Ansaetze doch eben gewaehlt worde, um Unsicherheiten abzudecken. Wenn man nicht weiss, was sich alles loest, geht man davon aus, dass sich alles loest usw. Ich wuerde da jetzt nicht wirklich fehlendes naturwissenschaftliches Basiswissen unterstellen.
    Viel wichtiger faende ich eine andere Diskussion: Wie sicher ist denn sicher genug. Absolut sicher ist nicht wie gesagt gar nichts. Wie gefaehrlich soll es also sein? Wie Rauchen? Wie ein Badeurlaub? Wie ein Waldspaziergang? Wie ein Urlaubsflug? Erst absolute Sicherheit fordern und dann darauf hinweisen, dass das denktheoretisch unmoeglich ist, ist nicht diskursfoerdernd….

  2. Da safety assessment Teil des safety case ist – siehe zum Beispiel in Safety Case and Safety Assessment for the Predisposal Management of Radioactive Waste Fig. 1 -, spielt eine Verwechslung eigentlich keine Rolle. Aber sowohl safety assessment als auch safety case sollten Unsicherheiten auf unterschiedlichen Ebenen betrachten. Siehe zum Beispiel in Geological Disposal of Radioactive Waste

    3.41 Safety assessment includes quantification of the overall level of performance, analysis of the associated uncertainties and comparison with the relevant design requirements and safety standards. The assessments are site specific, since geological systems, in contrast to engineered systems, cannot be standardized. As site investigations progress, safety assessments become increasingly refined, and at the end of a site investigation sufficient data will be available for a complete assessment. Safety assessments also identify any significant deficiencies in scientific understanding, data or analysis that might affect the results presented.

    Und ein Bestandteil des safety case ist nach oben aufgeführter Fig. 1

    F. Management of uncertainty

    Die „normale Art“, den Begriff sicher zu gebrauchen, sollte hier keine Rolle spielen. Schließlich spricht hier nicht der Volksmund, sondern actor und/oder regulator eines Langzeitlagers für radioaktive Abfälle. Diese Institutionen sollten in ihrer Sprachwahl alle euphemistischen Ansätze meiden, siehe in diesem Blog. Wozu gibt es denn die reichhaltigen Erfahrungen im Bereich der risk communication aus den letzten fast vierzig Jahren? Also im Sinne von Luhmann sollte bei Langzeitlagern in der öffentlichen Diskussion safety case durch risk case oder wenigstens safety assessment durch risk assessment ersetzt werden. Im Deutschen sollte der Begriff Langzeitsicherheitsnachweis durch Langzeitrisikobetrachtung ersetzt werden. Leider ist der Begriff Langzeitsicherheitsnachweis trotz diverser Entwicklungen seit den 1990er Jahren beibehalten worden. Man gewinnt den Eindruck, in Deutschland ist die Endlageradministration in den 1990er Jahren stehen geblieben. Siehe dazu Das Konzept des Safety Case… S. 451 Spalte 2 und 3.

    Die Aussage, Demeter-Milch wäre sicher, ist unsinnig. Das kann nur ein Werbeslogan sein, denn vergleichende Werbung ist nicht zulässig oder wenigstens wirtschaftlich risikoreich. Aber man kann im Rahmen eines risk assessment versuchen zu zeigen, dass Demeter-Milch gesünder ist als x-Milch. Nur so etwas ist glaubwürdig und vertretbar als Aussage einer seriösen – zum Beispiel staatlichen – Stelle.

    Es gibt im Rahmen des risk assessment die Berücksichtigung von Ungenauigkeiten durch konservativ deterministische und probabilistischen Ansätze. Im Beitrag wird der probabilistische Ansatz angeführt, da der konservative Ansatz beim Langzeitlager sehr mit Vorsicht zu genießen ist. Der konservative Ansatz ist nur bei linearen Systemen anwendbar. Langzeitlagersysteme sind aber oft nichtlinear. Dazu siehe Niemeyer, D. M., D. G. Resele, et al. (2004). Probabilistic Safety Assessment for the Morsleben Repository. DisTec 2004 – International Conference on Radioactive Waste Disposal Berlin, Germany. Mit diesen Ansätzen werde aber die Unsicherheiten nur unvollkommen und das Nichtwissen überhaupt nicht berücksichtigt. Der Blick auf die Interpretation im Sinne der subjektiven Stochastik nach De Finetti für das eine Endlager wird nirgends gewagt.

    Natürlich ist die Diskussion Wie sicher ist denn sicher genug? wichtig, aber in Deutschland muss man erst einmal auf der Basis der zur Verfügung stehenden geologischen Formationen feststellen, welche Konstellation die vergleichsweise sicherste Lagerung erlaubt. In Deutschland sollte erst einmal eine vergleichende Endlagersuche durchgeführt werden, erst dann kann man die Frage stellen, ob das dann sicher genug ist. Denn schließlich gehört zum safety case nach Fig. 1

    E. Iteration and design optimization.

    Bei einem geologischen Endlager gehört dazu die Optimierung der geologischen Situation durch Suche. Ein Vergleich mit anderen Risiken wie Waldspaziergang, Badeurlaub und Rauchen vor dieser Suche ist nicht angebracht, da die Endlagerrisiken durch Unsicherheiten und Nichtwissen geprägt sind, während für die anderen Risikoarten ausgiebiges statistisches Erfahrungsmaterial vorliegt.

    Richtig ist: Gefragt ist nicht die absolute Sicherheit, sondern die relative. Insofern müssen die zur Verfügung stehenden geologischen Konstellation durch vergleichende Standortsuche gesichtet werden. Das ist in Deutschland seit 1977 politisch verhindert worden.

  3. Eine wirklich interessante Diskussion…..

    Ich glaube, wir sind inhaltlich gar nicht weit auseinander. Unsicherheiten müssen auf jeden Fall betrachtet werden. Wie ich das bisherige Vorgehen verstanden habe, wurde das aber auch versucht und in den Nachweis eingespeist. Allerding stimme ich zu, dass das nie perfekt sein kann – und welcher Ansatz ist schon wirklich abdeckend konservativ? Und umgekehrt argumentiert: Wenn ich im Zweifel immer konservativ sein muss – bekomme ich dann nicht im Ergebnis ein immer eine viel zu überzogene Gefahreneinschätzung? Dieser Ansatz kann sicher auch unbegründete Ängste schüren, wenn die so ermittelten Dosen mit einer Prognose verwechselt werden.

    Das Problem scheint in der unangemessenen Begrifflichkeit zu liegen.
    Der Begriff Sicherheitsnachweis ist sicherlich irreführend und streng genommen falsch. Allerdings – und das ist eigentlich mein Punkt – auch nicht irreführender als der Sicherheitsbegriff, den wir sonst verwenden. Immer, wenn der TÜV etwas testet, immer wenn Grenzwerte ermittelt und kontrolliert werden, soll offiziell die Sicherheit gewährleistet werden. Dinge sollen unbedenklich sein.
    Wenn ich eine konventionelle Altlast saniere, soll sie nachher im Idealfall als unbedenklich freigegeben werden. Kein Bürgermeister würde sagen:

    „Man hat plausibel gemacht, das das Risiko für eine Kleinkind durch unausweichlich noch vorhandene Kontaminationen recht gering ist (beliebigen Risikowert einsetzen). Also bauen wir da jetzt einen Kinderspielplatz.“

    Der Mann würde – obschon er die Wahrheit sagt – gelyncht werden. Darum wird er – und jede Genehmigungsbehörde – von eigehaltenen Grenzwerten, Unbedenklichkeit etc reden. Muss man nicht gut finden – ist aber so.

    Wenn wir jetzt speziell bei der Endlagerung mit anderen Begriffen arbeiten, erschweren wir die Risikokommunikation eher, als das wir sie verbessern. Es ist ja wichtig, Dinge im Verhältnis einzuordnen und Prioritäten zu setzte. Mein Haus ist nicht sicher. Es ist auch nicht das sicherste Haus oder zwingend sicherer als das Nachbarhaus. Es ist nur einfach so sicher wie vorgeschrieben – und im täglichen Leben reicht mir das, um darin Kinder aufzuziehen. Wenn ich jetzt aber gefragt werde, ob ein Risiko X (hier den tatsächlichen Wert einsetzen) für einen Zusammenbruch meines Hauses ok wäre, würde ich sicherlich nicht spontan ja sagen!

    Wenn wir eine sinnvolle Diskussion zum Thema Endlager haben wollen, müssen wir darauf achten, die Sprache hier nicht anders zu benutzen als auf anderen Feldern.

    Es geht mir da um eine Konsistenz. Entweder bleiben wir bei der Aussage, dass die Sicherheit nachgewiesen werden soll – oder wir setzten zulässige Risiken ins Verhältnis zu anderen Risiken. Wenn ich mit dem Risikobegriff arbeite, habe ich am Ende eben auch ein ermitteltes Risiko, in das alle Unsicherheiten eingehen. Dadurch, dass Unsicherheiten in das berechnete Risiko eingehen, kann man das dann durchaus mit anderen Risiken aus besser berechenbaren Aktivitäten vergleichen. Ich finde das sogar unerlässlich. Ein Krebsrisiko von 10 hoch minus 6 ist etwas sehr abstraktes. Wenn man sagt „ungefähr so gefährlich wie 10 Wochen im Harz wandern“ (stimmt wahrscheinlich nicht) ist das schon greifbarer. Aber das ist natürlich eher eine Frage der Kommunikation.

    Es ist meiner Ansicht nach ein großes Problem, dass Risiken nicht vergleichbar gemacht werden. Wie groß ist das Risiko eines großen Zwischenlagers im Vergleich zu einem Endlager? Und wie groß ist das Risiko im Vergleich zu meinen anderen Lebensrisiken? Lohnt es sich, genau hier zu optimieren? Das alles wäre z.B. bei der Asse interessant – aber der Vergleich wird nicht gemacht. Ich vermute allerdings, dass das politisch auch so gewollt ist

    Ob es jetzt Sinn macht, dass sicherste Endlager zu suchen – ich bin da unentschlossen. Einerseits klingt es gut und ich wäre generell dafür. Andererseits besteht ja auch niemand auf dem sichersten Haus – es soll nur so sicher sein wie vorgeschrieben. Und wenn ich sehe, dass die gerade zusammengebastelte Kommission mehr aus Politikern, Bischöfen und anderen Interessenvertretern als aus echten Fachleuten besteht, sehe ich das auf keinem guten Weg….

    Nachtrag: Da das Safety Assessment tatsächlich Teil des Safety Case ist, war dieser Hinweis von mir in der Tat kein wichtiger Punkt und ziemlich überflüssig. Aber wenn man gerade beim Klugscheissen ist, findet man manchmal kein Halten mehr….

  4. Endlich eine Diskussion auf endlagerdialog.de

    Darauf habe ich lange gewartet. Vielen Dank!
    Leider waren die Kommentare bisher sehr rar gesät, obwohl alle Institutionen, die sich mit Endlagerung in Deutschland befassen, regelmäßig endlagerdialog.de besuchen. Da macht sich dann schon Frust breit, denn mein Anspruch war ein endlagerdialog.de, kein endlagermonolog.de.

    Doch jetzt zum Inhalt:
    Eine Langzeitrisikoanalyse kann wegen der Komplexität des Endlagersystems und des notwendigen Zeithorizonts nicht ansatzweise „perfekt“ sein. Ehrlicherweise muss man aus naturwissenschaftlicher Sicht das Nichtwissen und die Unsicherheiten als die wesentlichen Punkte einer solchen Analyse herausstellen. Dies hat man ja klammheimlich schon durch die Begrenzung auf eine Million Jahre gemacht. Aber eben klammheimlich. Die Ehrlichkeit im Endlagerbereich nimmt aber zu. So ist ein wesentlicher Punkt in der Stellungnahme der ESK zum sogenannten Langzeitsicherheitsnachweis des Endlagers Morsleben die Ungewissheit.

    Konservative Abschätzungen führen oft zu irreführenden Einschätzungen. So ist man im Verfahren Morsleben offensichtlich dabei, Konservativi­täten abzubauen.

    Außerdem sind Konservativitäten immer wieder zu hinterfragen. Nehmen wir das Beispiel der sofortigen vollständigen Freisetzung aus den Transportbehältern. Jahrelang habe ich das selbst als konservativen Ansatz vertreten. Längeres Suchen nach Gegenargumenten machten mich dann doch etwas stutzig. Wie sieht es mit folgenden zwei Argumenten aus?

    1. Bei der Strahlenbelastung spielt die Radiotoxizität die entscheidende Rolle. Aus der Abnahme der Aktivitäten der Abfälle wird oft auf eine Abnahme der Radiotoxizitäten vertraut. Dies ist aber nicht sicher. Denn in einer Zerfallsreihe kann ein Radionuklid auftreten, was sich durch einen extrem hohen Dosiskoeffizienten auszeichnet, zum Beispiel bedingt durch ein ausgeprägtes Stoffwechselverhalten. Theoretisch ist also nicht auszuschließen, dass eine spätere Freisetzung zu einer höheren Belastung führt, wenn die Ankunft in der Anthroposphäre genau in der Zeit stattfindet, in der die Radiotoxizität hoch ist. Komplizierter wird die Sache noch dadurch, dass neben den Dosiskoeffizienten der Ingestion, die in der Regel bei der Berechnung der Radiotoxizität benutzt werden, noch die anderen Dosiskoeffizienten eine wesentliche Rolle spielen. Ganz unübersichtlich wird die Sache dadurch, dass das Verhalten der Nuklide in der Umwelt ebenfalls eine maßgebliche Rolle spielt. Was ist, wenn hier ein elementspezifischer Transferfaktor aus dem Ruder läuft?

    2. Weiterhin kann der Fall auftreten, dass die Wanderungszeiten aus zwei Teilen des Endlagers unterschiedlich groß sind. Bei sofortiger Freisetzung kommen die Radionuklide aus den Teilen dann zu unterschiedlichen Zeiten in der Anthroposphäre an und führen zu einer geringeren Spitzenbelastung als in dem Fall, wo die Freisetzung individuell geschieht und sich so gestalten, dass die Ankunft der Nuklide aus den beiden Teilbereichen zur gleichen Zeit den Menschen trifft. Ein reales Beispiel ist das Nordfeld im Endlager Morsleben und die anderen Einlagerungsfelder.

    So richtig kann ich also an die Konservativität nicht mehr glauben. Endlagersystem zeigen eben nicht lineares Verhalten, die Modelle dazu schon eher.

    Kommen wir zur Risikokommunikation und konventionellen Altlasten. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass auf solch einer Fläche solch eine sensible Nutzung wie Kinderspielplatz geplant wird. Sicherlich ist nicht auszuschließen, dass ein Bürgermeister so kommuniziert. Denn Bürgermeister machen das oft ehrenamtlich und haben keine Zeit, sich intensiv mit Risikokommunikation zu beschäftigen. Bei der Endlagerproblematik sollte man einen höheren Standard anstreben, der dann auch zu tragfähigerer Kommunikationen führt. Die Grundlage jeder Risikokommunikation ist die Betonung der wissenschaftlichen Lücken, die Hinterfragung von gesetzten Standards und die Entscheidung der Betroffenen, ob sie diese Einschätzungen mittragen wollen. Hier kommt der Unterschied zwischen Chemotoxizität und Gentoxizität zum Ausdruck. Im ersteren Fall kann die Wissenschaft Grenzwerte angeben, im zweiten Fall bedarf es einer gesellschaftlichen Entscheidung, welche Risiken bei einem angenommenen Nutzen akzeptiert werden können.

    Bei der Endlagerproblematik sollte man sich dann schon an den Stand von Wissenschaft und Technik auch bei der Kommunikation halten. Und wie der Stand der Kommunikation in diesem Bereich zurzeit ist, lässt sich gut an den Regelungen zu gentoxischen Chemikalien ablesen.

    Beim Vergleich von Risiken hat man mit vielen Problemen zu kämpfen. Die wichtigsten sind in der Regel Nichtwissen und Unsicherheiten. Die unterschiedlichen Alternativen zur Asse lassen sich schlechterdings nicht einfach auf Risikogrößen reduzieren. Die einfache Alternativenauswahl nach der Risikogröße wird wohl nicht gelingen. Aber es ist auch nicht wirklich versucht worden, sondern stattdessen wurde der politische Kurzschluss zelebriert.

    Bei der weiteren Endlagersuche kann man die Risiken eines Endlagerstandorts nicht mit anderen Risiken wie Waldspaziergänge vergleichen. Hier liegen zwei Risikoabschätzungen vor, die durch ein sehr unterschiedliches Maß an Nichtwissen und Unsicherheiten geprägt sind. Eher ist es möglich, unterschiedliche Standorte auf Risikobasis miteinander zu vergleichen und so einen möglichst guten Langzeitlagerstandort zu wählen. Natürlich muss diese Optimierung auf dem zeitlichen Teppich bleiben. Leider sind durch die Politik schon viele Jahrzehnte verloren gegangen, und wir befinden uns fast am Ende des Teppichs. Erst nach dieser Optimierung kann man hilfsweise mit anderen Risiken vergleichen. Das kann sicherlich zu Fehleinschätzungen führen, wie oben der Ausflug in die Konservativität gezeigt hat.

    Sicherlich habe auch ich die Hoffnung, dass die Kommission sich wirklich rational an das Thema heranmacht. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt. Es wäre aber das erste Mal, dass die Rationalität im Endlagerbereich in Deutschland Fuß fasst. Das hängt schlechterdings von den Einzelpersonen in der Kommission ab. Ich drücke die Daumen!

  5. Das Nichtwissen gerät immer weiter in den Brennpunkt

    Bei der Diskussionsveranstaltung im niedersächsischen Landtag am 21. Februar 2014 gab es einen Workshop mit Peter Hocke mit dem Titel Wie muss die Kommission ihren Arbeitsprozess strukturieren? Umgang mit Konflikten und Nicht-Wissen. Siehe Veranstaltungsbericht auf ENTRIA.
    An sich ist das eine alte Sache. Schon 1999 kam Rechtsanwalt Ulrich Wollenteit in seinem Vortrag Zur Langzeitsicherheit von Endlagern auf dem 10. Deutschen Atomrechtssymposium aus diesem Grund zu dem Schluss:

    Die Langzeitsicherheit gilt erst dann als nachgewiesen, wenn zur Verfügung stehende Optimierungsmöglichkeiten hinsichtlich der Strahlenminimierung ausgeschöpft sind.

    Und trotzdem wird bei der Endlagerung weiterer Abfälle in Morsleben allein auf das Dosisbegrenzungsprinzip abgehoben.

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