Die 32. NBG-Sitzung als Ausgangspunkt
Bei der 32. NBG-Sitzung kam der Vorschlag, Emotionen bei der Endlagersuche aus wissenschaftlicher Sicht zu betrachten – siehe hier. Dies war Anlass, sich das dazu einschlägige Buch Smeddinck, U., Hrsg. (2018). Emotionen bei der Realisierung eines Endlagers – Interdisziplinäre Beiträge anzusehen. Es geht auf eine Veranstaltung am 21.06.2016 im Rahmen des Forschungsprojektes ENTRIA zurück. Die Braunschweiger Zeitung berichtete darüber unter der Überschrift „Bürger-Wut ist konstruktiv“.
Diskussion in der Veranstaltung wenig ausgeführt – Der Inhalt im Überblick
Das Buch geht lediglich auf einer halben Seite auf die Diskussion in dieser Veranstaltung ein. Der wesentliche Teil (siehe Inhaltsverzeichnis) besteht aus Abhandlungen der Vortragenden:
Christian Götter – Emotionen als Argument – Die Debatte um die Kernenergie im Biblis der 1970er Jahre
Barbara Thies, Melanie Misamer und Florian Henk – Protestverhalten aus psychologischer Perspektive
Basil Bornemann – Emotion, Konflikt und Partizipation – Politikwissenschaftliche Perspektiven auf die Rollen von Emotionen im Konflikt um die Endlagerung radioaktiver Abfälle und dessen partizipative Bearbeitung
Ulrich Smeddinck – Recht, Atommüll und Emotionen – Eine Annäherung an verschiedene Facetten des Konfliktfeldes
Ergänzt wurden in diesem Buch zwei weitere Beiträge, um das Bild abzurunden:
Anne Reichold – Empörung im Kontext von Debatten um ein Endlager für Atommüll – Eine philosophische Analyse
Nicole Terne – Mythos der nuklearen Sicherheit am Beispiel Japans
Emotionen beim Biblis-Konflikt
Christian Götter kommt aufgrund seiner Studien zu Biblis zu dem Schluss, dass nicht die von Kernkraftanlagen Betroffenen Angst und damit Emotionen zeigen, sondern es sind die Betreiber dieser Anlagen, die sich über die Emotionen der Bevölkerung beklagen, die eine rationale Auseinandersetzung behindern würden. Offensichtlich wurde das Instrument eingesetzt, um die protestierenden BürgerInnen zu diskreditieren. Die Haltung der Kernenergiegegner war eher geprägt von Vertrauensverlust zum Beispiel in sogenannte wissenschaftliche Prognosen. Besonders besorgniserregend war dabei, dass von politischer Seite auf kritische Fragen oft nur mit „faulen Entschuldigungen und Ausflüchten“ reagiert wurde. Götter rückt das Vertrauen in den Mittelpunkt. Das Vertrauen – nach Niklas Luhmann ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität -, der Akteuren hilft, Entscheidungen über komplexe Fragen zu treffen, indem sie dem Urteil von akzeptierten Fachleuten folgen.
Die psychologische Perspektive
Für Barbara Thies ist Ärger die Emotion, die Handlung initiiert. Ärgerliche BürgerInnen sind bereit, für ihre Belange einzutreten. Ärger ist die Emotion, die politische Partizipation fördert und zu legitimen Ausdrucksformen im Rahmen von Konflikten führt. Auch bei Thies spielt Vertrauen eine wesentliche Rolle:
Akzeptanz oder im gegenteiligen Fall Protestbereitschaften sind also häufig auch eine Frage des (mangelnden) Vertrauens in die entscheidenden Akteure und Akteursgruppen. Darüber hinaus zeichnen sich eskalierende Infrastruktur- und Bauprojekte oftmals durch den zu späten Einsatz von Bürgerbeteiligung und Mediation aus, sodass die Schaffung einer Vertrauensgrundlage nicht mehr möglich ist.
Thies erwähnt auch die Studie in Schweden zur Endlagersuche in Oskarshamm, Tierp, Älvkarleby und Östhammar (Sjöberg, L. (2004). „Local Acceptance of a High-Level Nuclear Waste Repository.“ in: Risk Analysis 24(3): 737-749), erwähnt aber nicht Sjöbergs relativ stringente Ablehnung des Faktors Emotion:
…This article has painted a picture of public opinion as largely driven by reason, and less rigid and emotional than the received view of risk perception would have us believe. Although dread emerged as an important explanatory construct, its power was derived mostly from the items measuring severity of consequences, not emotional reactions. Attitude was important, and attitude is no emotion. Economic considerations entered the picture, and interfering with nature played an important role. That is an ideological and moral factor, not an emotion. People have their own views of the nature of knowledge and the world, and of the limits of scientific knowledge…
Der politikwissenschaftliche Kontext
Basil Bornemann untersucht anhand einer Fülle von Quellen das Verhältnis von Konflikten, Emotionen und Partizipation im politikwissenschaftlichen Kontext. Er kommt ebenfalls zu dem Punkt, dass Emotionen als Bedrohung demokratischer Politik gesehen werden können, andererseits auch als Ressource für demokratisches Engagement. Bornemann erwähnt zum Beispiel Wissenskonflikte, in denen häufig die Rede von Gefühlen der Desinformation oder des fehlenden Vertrauens in Bezug auf Vollständigkeit und Richtigkeit von Informationen ist. Unvollständig empfundenes Wissen kann sich in Angst umsetzen. Angst sei unter Umständen eine Folge von Wissenskonflikten. Ein Konflikt kommt selten allein, er ist oft ein Teil einer Konfliktlandschaft und trägt einen historischen Index. Die Konfliktlandschaft wird aufgespannt durch die räumliche Dimension (zum Beispiel Wendland), die zeitliche Dimension als Geschichte des Konflikts und durch die gesellschaftliche Dimension in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionsbereichen. Partizipation wird einerseits als Rationalisierung durch Einhegung von Emotionen gesehen, andererseits
sollten Partizipationsprozesse die wichtige Bedeutung von Emotionen anerkennen und dementsprechend „emotionssensitiv“ ausgestaltet werden.
Als wichtig wird erachtet das Kommunikationsmodell im emotionsbezogenen Partizipationsdesign. Zu unterscheiden sind Dialog, Disput, Diskurs und Mediation.
Das Recht sowie die Rechtswissenschaften und Emotionen
Ulrich Smeddinck geht davon aus, dass die alten Konflikte heute weiterhin bei der Endlagersuche prägend sind. Er untersucht unter anderem die Möglichkeit der Berücksichtigung von Emotionen in gesetzlichen Regelwerken und der Reduzierung des historischen Konflikts durch das Standortauswahlgesetz. Recht und Emotionen vor dem Hintergrund des rationalen Staates scheint ein Grundwiderspruch zu sein. Dennoch:
Das Auftreten der Wutbürger und die Renaissance der Wut als öffentlich bekundetes Gefühl hat das Interesse an neuen Formen der Konfliktbewältigung und Partizipation geweckt. Neben einer Vielzahl von Publikationen ist insbesondere die Einführung der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung in § 25 Abs. 3 Verwaltungsverfahrensgesetz hervorzuheben.
Smeddinck sieht in der Fachkonferenz Teilgebiete, der Fachkonferenz Rat der Regionen und den Regionalkonferenzen eine rechtliche Möglichkeit, emotionssensitive Prozesse anzustoßen. Auch die Festlegung der Berufung eines Partizipationsbeauftragten unter dem Dach des Nationalen Begleitgremiums geht in diese Richtung. Bei der Reduktion des historischen Konfliktes sieht Smeddinck bisher keine gesetzlichen Regelungen:
Es wird zusätzliche wissenschaftliche und gesellschaftliche Anstrengungen brauchen, die zu einer Bewegung „Pro Endlager“ führen, damit ein solches Projekt tatsächlich realisiert werden kann. Denn eine Durchsetzung gegen die Stimmung in der Gesellschaft erscheint schwer vorstellbar.
Smeddinck geht leider nicht auf die im Jahre 2012 sich abzeichnende Diskussionslage in unterschiedlichen Bewegungen ein, die eine Bewegung „Pro Endlager“ am Horizont andeutete. Das diplomatische Geschick von Politik und Administration reichte damals offensichtlich nicht aus, dies konstruktiv aufzugreifen -siehe Der beste Kompromiss kommt aus Gartow und Die Zivilgesellschaft mischt sich ein.
Eine philosophische Analyse
Anne Reichold beginnt mit dem bis heute geltenden Spannungsfeld zwischen einerseits Emotionen, Gefühlen, Affekten und andererseits Rationalität, Recht und Strafe. Die folgende philosophische Analyse der Empörung untersucht begrifflich und argumentationstheoretisch die rational-inferenziellen Implikationen von Empörungshaltungen. Dieses Abstraktionsniveau stellte dann für endlagerdialog.de eine Überforderung dar. Aufgefallen ist nur folgende Stelle:
Den Sicherheitsanalysen liegen dabei Szenarien möglicher Entwicklungen des Endlagers zugrunde, bei denen auch der Umgang mit „known unknowns“ eine Rolle spielt. Während nun das Prinzip der Sicherheit weitgehend unstrittig ist, ist im Diskurs „viel Skepsis gegenüber dem Safety Case auszumachen“. Insbesondere die Sicherheitsuntersuchungen der Endlager-Kommission riefen massive Vorbehalte hervor, da sie „aufgrund ihrer Komplexität die Möglichkeiten bieten könnten, Ergebnisse und damit Entscheidungsgrundlagen bei der Standortauswahl zu manipulieren.“
Diese Ausführungen gehen auf den Artikel in GAIA 2017 zurück. Darauf wurde bereits im Beitrag Jahrhundertprojekt Endlagerung unter Punkt 4 eingegangen:
Der Widerstand gegen diesen Safety Case – besser Risk Case – trifft deshalb auf pauschale Verweigerung, weil er weder unterschiedliche geologische Formationen noch Endlagersysteme miteinander vergleicht, sondern allein die ehemaligen Planungen am Standort Gorleben zum Gegenstand hat.
Kritisiert wird also nicht die Komplexität, sondern die zu befürchtende Reduktion auf eine einzige skalare Größe, die sogar mit einem Grenzwert belegt werden sollte. Dies ist dann doch verhindert worden.
Das japanische Atomdorf
Nicole Terne schlägt zum Schluss ein ganz anderes Kapitel auf. Kernpunkt der Arbeit ist das japanische Atomdorf.
Das sogenannte japanische Atomdorf setzt sich aus drei großen Bereichen der japanischen Machtelite zusammen, die seit Jahrzehnten miteinander verflochten sind und als gemeinsames Ziel das Vorantreiben der Kernenergie in Japan verfolgen.
Terne kommt schlussendlich zum Schluss, dass – obwohl bei der Wiederinbetriebnahme der Reaktoren in Japan gezögert wird – die Zustimmung in der japanischen Bevölkerung zunimmt und der Mythos der sicheren Kernenergie in Japan stärker verankert ist als angenommen.
Pflichtlektüre für die zwei für Partizipation zuständigen Stellen bei der Standortauswahl
Die gut 200 Seiten des Buchs sind durchaus lesenswert. Insbesondere die Ausführungen zu den Politikwissenschaftlichen Perspektiven von Basil Bornemann sollte Pflichtlektüre für die zwei nach dem StandAG für Partizipation zuständigen Stellen sein – für das BfE-Fachgebiet SV 5 Öffentlichkeitsbeteiligung und den Partizipationsbeauftragten unter dem Dach des NBG. Weiterhin: Auf der NBG-Sitzung wurde dieses Thema für die zweite Statuskonferenz vorgeschlagen. Man kann gespannt sein, wie das BfE die Problematik präsentieren wird.