Interdisziplinäre Arbeit von ENTRIA
Im Journal of Radiological Protection wurde von ENTRIA (Kalmbach, Röhlig) ein Artikel mit dem Titel Interdisciplinary Perspectives on Dose Limits in Radioactive Waste Management veröffentlicht. Ausgangspunkt dieses interdisziplinären Papiers waren Statements aus der Sicht der Politischen Wissenschaften, der Technikbewertung, der Radioökologie und des Strahlenschutzes, der Endlagerforschung und der Rechtswissenschaften.
ENTRIA-Thesen
ENTRIA kommt zu folgenden Thesen, die in zwei Blöcken formuliert werden (RWM: Radioactive Waste Management):
Box 1
ENTRIA propositions:
- Regulatory systems using dose limits are being put into question by various
actors both with regard to elements concerning techno-scientific issues and
governance issues. - The strategy of addressing this loss in trust with concepts like ‘better educating
the public about risk’ did not increase trust in the system, as the initiators
of these campaigns were not considered trustworthy. - As ionizing radiation is broadly considered a health threat without any threshold,
there is a strong societal demand for zero-emissions of nuclear facilities.
This demand also holds for facilities for deep geological waste disposal.
Box 2
ENTRIA propositions:
- (Dose) limits do not stand alone but are woven into various sets
of regulations. However, different actors perceive and judge the relevance
of these contexts most differently. - (Dose) limits are the result of scientific, societal and political negotiations and
stipulations. They are based on knowledge, perceptions and interests. - Classical concepts of (dose) limits are not helpful when addressing societal
controversies about RWM.
Die paradoxe Situation: Tiefengeologie und Dosisgrenzwerte
Insbesondere wird die paradoxe Situation herausgearbeitet, dass einerseits vorwiegend die tiefengeologische Endlagerung wegen deren Stabilität auch gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen (Kriege etc.) verfolgt wird und andererseits die Abschätzung der Dosis, in die das menschliche Verhalten und insbesondere die Ernährungsgewohnheiten eingehen, als Eignungsmaßstab benutzt wird. Letztere sind nicht über längere Zeiten prognostizierbar. Insofern sind die Dosisabschätzungen sehr unsicher.
Andere Indikatoren – zur Optimierung
Andere Indikatoren für die Funktionsfähigkeit eines Endlagers haben diesen Nachteil nicht, sind aber kaum kommunizierbar und es fehlen die Vergleichsmöglichkeiten. Wie bewertet man die Indikatoren bei Radionukliden, die natürlicherweise nicht vorkommen? Eine Frage, die auch beim Erörterungstermin zum Endlager Morsleben eine wesentliche Rolle gespielt hat. Hilfreich sind solche Indikatoren aber aus technischer Sicht, um Endlager zu optimieren.
Defizit Nummer eins
Das lässt aufhorchen. Warum wird hier allein die Dosisbegrenzung betrachtet? Der Strahlenschutz als interdisziplinäres Fachgebiet zwischen Biologie, Chemie, Physik und Medizin mit hundertjähriger Entwicklungshistorie wird in dem vorliegenden Artikel nur ungenügend berücksichtigt. Warum werden die beiden anderen Strahlenschutzgrundsätze Rechtfertigung und Optimierung nicht wenigstens erwähnt? Warum werden lediglich Dosisgrenzwerte betrachtet?
Komparative Endlagersuche
In Deutschland ist man nach Jahrzehnten der vergeblichen Suche nach einem sogenannten sicheren Endlager (das Perpetuum mobile der Endlagerung) endlich zur wissenschaftsmethodisch einzig möglichen Suche nach einem bestmöglichen Endlager übergegangen. Der erste Ansatz dazu wurde 1976 durch die Politik abgewürgt, der zweite Ansatz des AkEnd wurde 2002 ebenfalls politisch abgewehrt. Das StandAG hat hier den Durchbruch gebracht, der aber so nicht herausgestellt wird, um die bisherige unwissenschaftliche Vorgehensweise nicht allzu offensichtlich zu machen.
Dosisgrenzwerte bei komparativer Endlagersuche ohne Bedeutung
Bei der komparativen Endlagersuche sollte der Dosisgrenzwert keine Rolle spielen. Hier gilt es, den Optimierungsgrundsatz des Strahlenschutzes umzusetzen, der die logische Konsequenz des LNT-Modell darstellt. Gegen den Grundsatz der Rechtfertigung wurde schon beim staatlich erpressten Einstieg in die Atomkernenergienutzung irreversibel verstoßen.
Dosis als Optimierungsgröße?
Es stellt sich somit allein die Frage, ob die Dosis eine sinnvolle Größe zur Optimierung darstellt, gegebenenfalls getrennt nach Dosisbeitrag der natürlich vorkommenden und der künstlichen Radionuklide. Wie sieht es mit der Dosis als Optimierungsgröße zum Beispiel unter Berücksichtigung unterschiedlicher Klimaentwicklungen aus? Siehe dazu A. Becker.(2003). Beitrag zur Erstellung einer Referenzbiosphäre zur Berechnung der in der Nachbetriebsphase eines Endlagers für radioaktive Stoffe hervorgerufenen potentiellen Strahlenexposition unter Berücksichtigung des Einflusses des Klimas, BMU.
Eine Fülle weiterer Indikatoren
Viele Indikatoren für den Einfluss radioaktiver und anderer Schadstoffe auf Mensch und Umwelt wurden entwickelt, siehe auch Eignet sich die AVV zu Risikoabschätzungen bei der Langzeitlagerung radioaktiver Abfälle? und Vortrag Seite 20 ff. All diese fast einhundert Indikatoren sollten hinsichtlich der Eignung als Optimierungsparameter betrachtet werden.
Defizit Nummer zwei
Hier kommt man zu dem zweiten Defizit des Artikels. Es wird allein der Dosisgrenzwert im Strahlenschutz diskutiert. Eine wissenschaftliche Herangehensweise erfordert es aber, hier einen umfassenderen Ansatz zu verfolgen. Der Schädigungsmechanismus radioaktiver Stoffe und von ionisierender Strahlung ist der gleiche wie der von kanzerogenen Stoffen. Der Grundmechanismus ist die Genotoxizität, im Allgemeinen beschrieben nach dem LNT-Modell.
Radiotoxizität und Chemotoxizität – unterschiedliche gesellschaftliche Regulierungen
Um insbesondere den gesellschaftlichen Umgang mit dem Problem der Genotoxizität zu betrachten, müssen die Entwicklungen auf dem Gebiet der Gefahrstoffe einbezogen werden, siehe auch Schutzziele bei der Endlagerung und Risikokonzept. Warum kommen Strahlenschutz und Schutz vor Gefahrstoffen zu solch unterschiedlichen Regelungen, obwohl das Problem das gleiche ist?
Top-Down- Verfahren versus Bottom-Up- Ansätze
Der ENTRIA-Artikel stellt wohl zutreffend fest, dass es keinen Sinn macht, in Top-Down- Verfahren weitere Kriterien zu entwickeln. Als aussichtsreicher werden Bottom-Up-Ansätze gesehen. Ein ähnlicher Ansatz wurde im BfS bereits 2005 erarbeitet:
…Es geht auch um die Schaffung einer breiteren Vertrauensbasis in der Öffentlichkeit, um eine fundierte gesellschaftliche Entscheidung herbeiführen zu können. Um dieses zu erreichen, sollten bei einem konkreten Projekt alle verfügbaren Indikatormodelle angewendet werden. Lediglich Doppelungen sollten vermieden werden, indem identische Indikatoren identifiziert und als Synonyme gekennzeichnet werden. Nur durch einen solchen „pluralistischen“ Ansatz ist die Beurteilung des komplexen Problems „Endlager in der Nachbetriebsphase“ – das sich mit den exakten Naturwissenschaften Physik und Chemie, mit der beschreibenden Wissenschaft Geologie und mit weiteren Wissenschaften wie der Soziologie nicht eindeutig abbilden lässt – in Approximation durchführbar. Ein „singularistischer“ Ansatz ist wenig hilfreich.
Auf Grund der o. g. erkenntnistheoretischen Rahmenbedingung ist die Aufzählung der Indikatormodelle nie als abschließend zu betrachten. Jedes weitere sinnvolle Indikatormodell kann neue Aspekte aufzeigen, die mit den bisherigen nicht vollständig abgedeckt werden konnten.
Konsequenterweise ist für ein Endlagerprojekt ein möglichst umfassender Satz von Eingangsdaten zu erarbeiten, so dass jeder beliebige Indikator abgeschätzt und auf Nachfrage auch weitere sinnvolle Indikatorvorstellungen numerisch bedient werden können. Ein Sicherheitsnachweis/-beweis im rein wissenschaftlichen Sinne ist unmöglich und ein Versuch hätte Ähnlichkeit mit den sog. Gottesbeweisen, die bei der Entwicklung der mathematischen Logik und der Erkenntnistheorie eine wesentliche Rolle spielten…
Dieser Ansatz wurde damals aber als nicht diskussionswürdig erachtet und führte zur Strafversetzung des Autors.
Dosisgrenzwerte für Endlager schwach- und mittelaktiver Abfälle
Anzumerken ist noch etwas zu den Ausführungen zu den Dosisgrenzwerten in den Sicherheitsanforderungen von 2010 von 0,01 mSv/0,1 mSv. Die folgende Passage
However, these requirements are not applicable to repositories for ‘waste with negligible heat generation’ (equivalent to low and intermediate level waste LILW). For the Morsleben LILW repository, the governmental advisory body SSK (Radiation Protection Commission) recommends limits of 0.1 mSv (likely evolutions) and 1 mSv (less likely evolutions) (SSK 2010).
ist nicht so zu verstehen, dass für LILW generell die Werte 0,1 mSv/1,0 mSv anzusetzen sind. Dies hat die SSK 2010 mit Bezug auf ihre Stellungnahme zu den damals im Entwurf vorliegenden Sicherheitsanforderungen aus dem Jahr 2008 allein für Morsleben mit den bereits eingelagerten Abfällen empfohlen. Eine weitere Begründung wurde nicht abgegeben. Siehe auch Verwendete Grenzwerte und deren Beliebigkeit.