Wissenschaftstheorie und Endlagerung – keine Fehlinvestition
Auf endlagerdialog.de wurde immer wieder von Wissenschaftstheorie gesprochen – siehe hier. Hervorzuheben ist der Beitrag Deutschland ist offensichtlich Analphabet in Wissenschaftstheorie aus dem Jahr 2013. Deshalb ging von der Erwähnung einer wissenschaftstheoretischen Flankierung des ENTRIA-Projekts eine magische Kraft aus, die zum Kauf des Buchs Inter- und Transdisziplinarität bei der Entsorgung radioaktiver Reststoffe geführt hat. Im Beitrag Das dicke Ende von ENTRIA wurde in Aussicht gestellt, dass berichtet wird, ob das zu einem Lesegenuss geführt hat oder als Fehlinvestition eingestuft werden muss. Das Ergebnis: Eine Fehlinvestition war es nicht.
Der positive Test mit „Thomas Kuhn“
Der erste Test war die Suche nach Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Und der Test verlief positiv. Er führte in das Kapitel 4 zur Rechtswissenschaft, worin mit T. Kuhn untermauert wird, dass auch wissenschaftliche Disziplinen geprägt sind von Werden und Vergehen, eben von Paradigmenwechseln.
Plattentektonik als Revolution im Sinne von T. Kuhn?
Leider wird dies im Kapitel 5 zur Geologie nicht problematisiert, wo es sich nach Meinung von endlagerdialog.de geradezu aufdrängt. Ist die wissenschaftliche Revolution nach Anerkennung der Plattentektonik nach Wegener in der Geologie die letzte ihrer Art gewesen? Hat sich die monolithische Geologie zu einer pluralistischen Wissenschaft entwickelt, wo nach Stephen Toulmin eher evolutionäre Prozesse ablaufen? Wie robust sind also Aussagen der Geologie? – siehe auch hier.
Kapitel 5 zur Geologie ist der lesenswerteste Teil des Buches
Auch wenn das Kapitel zur Geologie in dieser Hinsicht enttäuscht, ist es mit der lesenswerteste Teil des Buchs. Aufgrund des interdisziplinären Ansatzes von ENTRIA wird hier Nichtgeologen verständlich mitgeteilt, was Geologie macht und welche Teile der Geologie für die Endlagerung wichtig sind. Aufgeklärt wird über aus geologischer Sicht falschem Gebrauch von Fachbegriffen wie Formation und Kristallingestein. Jede Person, die sich als Nichtgeologe mit Endlagerung beschäftigt, sollte diese zehn Seiten gelesen haben:
5.1 Problemstellung und Motivation …………………………………………… 37
5.2 Die Situation in Deutschland ……………………………………………….. 37
5.3 Was kann die Geologie leisten? ……………………………………………. 38
5.3.1 Grenzen der Aussagekraft der Geologie in Bezug auf die
Einlagerung radioaktiver Reststoffe …………………………………………. 40
5.3.2 Interdisziplinarität in der Geologie …………………………………… 40
5.4 Prinzip und Anforderungen an ein Tiefenlager für hoch radioaktive
Reststoffe …………………………………………………………………..…………… 40
5.4.1 Anforderungen an die geologischen Randbedingungen für
ein Tiefenlager ………………………………………………………………………… 41
5.4.2 Anforderungen durch die Gewährleistung von Rückholbarkeit
und Bergbarkeit ……………………………………………………………………..…41
5.5 Wirtsgesteine ………………………………………………………………….…. 43
5.5.1 Ton und Tonstein.…………………………………………………………….. 43
5.5.2 Kristallines Hartgestein ……………………………………………….…. 44
5.5.3 Steinsalz ………………………………………………………………….….…. 45
5.6 Zusammenfassung ……………………………………………………………. 46
Literatur …………………………………………………………………………….…. 47
Wissenschaftstheoretische Verortungen schließen nicht an Bekanntem an
In den Kapiteln 2 bis 6 werden die Disziplinen Politikwissenschaften, Geochemie, Rechtswissenschaften, Geologie und Strahlenschutz verständlich dargestellt, wie es für die interdisziplinäre Arbeit notwendig ist. Leider schließen die wissenschaftstheoretischen Verortungen nicht an Bekanntem an wie an Lohse, S. und T. Reydon.(2017). Grundriss Wissenschaftsphilosophie – Die Philosophien der Einzelwissenschaften.
Statt Glossar wurde ein Memorandum verfasst
Zum Teilprojekt Glossar, das schließlich nicht umgesetzt werden konnte, findet man Ausführungen im Kapitel 8, worin es um die Vereinheitlichung wissenschaftlicher Begriffe in der interdisziplinären Zusammenarbeit geht. Der andere produktive Ansatz zu dieser Problematik wurde umgesetzt: Es wurde ein ENTRIA-Memorandum verfasst, in dem konfliktbeladene Spannungsfelder identifiziert wurden.
Euphemismen nicht beseitigt, auch dadurch Neustart verpasst
Zu den Begrifflichkeiten findet sich folgende interessante Aussage (S. 71):
Für die Rechtswissenschaft gilt ähnliches: Gerade wenn Begriffe oder auch Vorschriften bekannt und bewährt sind, sind Änderungen – wenn auch unter erhöhtem formale Aufwand und nicht zuletzt auch gegen politische Widerstände – möglich, aber aus verschiedenen Gründen eher unwahrscheinlich (vgl. Smeddinck und Tils 2002 , S. 37).
Das StandAG 2013 sprachlich ehrlicher zu formulieren und grundsätzlich Euphemismen zu vermeiden, war der Ansatz von endlagerdialog.de zu einer an 33 Stellen veränderten Fassung. Offensichtlich waren die politischen Widerstände zu groß. Aber die sprachliche Überarbeitung hätte wenigstens einen Neustart signalisiert. Da dies nicht geschehen ist, kann treffend zitiert werden (S. 72):
Wenn der Gesetzgeber wie die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger immer häufiger zu affirmativen Formulierungen greifen und Gesetzen und Konzepten (euphemistische) Namen geben, die nach dem Eindruck des unbefangenen Beobachters im Widerspruch zu ihrem Inhalt stehen, ist das ein Problem für die Politik, was rechtswissenschaftlich aber nicht folgenlos bleibt:…
Transdisziplinarität im Sinne der Wissenschaftsladen-Bewegung
Eine wichtige Stellung nimmt in dem Buch der Begriff Transdisziplinarität ein, der unterschiedlich umschrieben wird. endlagerdialog.de tendiert in der Tradition der Wissenschaftsladen-Bewegung zu folgender Umschreibung (S. 67):
Transdisziplinäres Arbeiten ist gekennzeichnet durch eine stärkere gesellschaftliche Problemorientierung und die Beteiligung der Öffentlichkeit oder den Stakeholdern.
Safety Case und Transdisziplinarität: Theorie und Praxis
Im Kapitel 9 geht es um den Safety Case, der grundsätzlich interdisziplinär erarbeitet werden muss und ein Potenzial für Transdisziplinarität eröffnet – so wie (S. 85):
Es zeigt sich jedoch eine Reihe von Möglichkeiten, einerseits den Safety Case als technisch-funktionales System zu denken, andererseits die Safety-Case-Diskussion über den Kreis der Antragsteller, Entscheidungsträger sowie Gutachterinnen und Gutachter hinaus für andere Stakeholdern sowie die interessierte Öffentlichkeit zu öffnen. Im letzteren Fall gäbe es die Möglichkeit, das Instrument Safety Case produktiv in die Debatte um „ausreichende versus zu geringe Endlagersicherheit“ einzubringen.
Hier gilt es, in die Praxis zu gehen: Der Safety Case des Endlagers Konrad wird zurzeit überprüft, für das Endlager Morsleben muss ein neuer erstellt werden. In beiden Fällen ist von Öffnung für die interessierte Öffentlichkeit nichts zu spüren. Theorie (= Stand der Wissenschaft) und Praxis sind hier sehr weit auseinander, obwohl nach dem Atomgesetz der Stand von Wissenschaft und Technik einzuhalten ist. Siehe auch Fachtagung zum ERAM am 18.05.2019, Workshop 2 – Programm.
Freiwilligkeit ohne Schweden und AkEnd
Etwas enttäuschend ist Kapitel 10 zur Freiwilligkeit, die allein rechtswissenschaftlich-ethisch betrachtet wird. Hier hätten zumindest die Rahmenbedingungen der Freiwilligkeit bezüglich Endlagerstandortauswahl in Schweden erwähnt und das Konzept des AkEnd betrachtet werden sollen – siehe AkEnd-Empfehlungen, Seite 191 (Kriterium Beteiligungsbereitschaft).
Leider StandAG von 2013, aber hervorragendes Kapitel zur Geologie
Teilweise leidet das Buch darunter, dass es im Jahr 2016 erschienen ist, also in einer Phase geschrieben wurde, in der die Endlagerkommission noch gearbeitet hat und das StandAG noch den Stand von 2013 hatte. Trotzdem ist es in vielen Bereichen sehr aufschlussreich. Hierbei sind die Ausführungen über die Geologie in Kapitel 5 – wie oben schon erwähnt – hervorragend.
Archiv der Endlagerkommission verschwunden
Der obige Link zu den AkEnd-Empfehlungen führt zum Archiv der Endlagerkommission, was aber seit einigen Tagen nicht mehr online ist. Darüber wurde an keiner Stelle informiert. Man wird abgespeist mit The requested URL /endlager-archiv/blob/281906/c1fb3860506631de51b9f1f689b7664c/kmat_01_akend-data.pdf was not found on this server.
Für die dauerhafte Bereitstellung der Informationen zum Endlagersuchverfahren ist das BfE als Regulierungs- und Bürgerbeteiligungsbehörde zuständig. Selbst die Informationsplattform, auf der alle wesentlichen Dokumente gesammelt werden sollten, enthält zum Archiv der Endlagerkommission keinerlei Hinweis.
Die AkEnd-Empfehlungen sind jedoch auch über den URN-Service der Deutschen Nationalbibliothek zu erreichen unter http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0221-201111176633. Für andere Unterlagen der Endlagerkommission gilt das nicht.